Stasi-Konzern. Uwe Klausner

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Stasi-Konzern - Uwe Klausner

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kam nicht dazu, den Gedankengang abzuschließen. Kaum hatte der NVAler den Hof betreten, riss er die Waffe hoch und zielte. Er tat dies mit Bedacht, als sei Furrer, der in gebückter Haltung auf das Toilettenhäuschen zu rannte, im Grund kein Gegner für ihn. »Abhauen!«, war alles, was der Physikstudent hervorbrachte, um seinen Kumpel, der hinter dem Abort in Deckung gegangen war, zu warnen. »Höchste Gefahr!«

      Zobel, bislang unentdeckt, wusste, was er zu tun hatte. Nicht einzugreifen hieß, dass Furrer, der um sein Leben rannte, wie ein Hase abgeknallt werden würde. Und es bedeutete, dass auch ihm, dem der Fluchtweg abgeschnitten war, das gleiche Schicksal drohte. Deshalb, und nur deshalb, musste er genau das tun, was er sich bis vor Kurzem, als er seine Knarre zum ersten Mal in der Hand hielt, nicht hatte vorstellen können.

      Er musste zur Waffe greifen, sie auf einen Menschen richten und abdrücken. Er musste damit rechnen, dass dieser Mensch, ein DDR-Grenzsoldat, ums Leben kommen würde.

      Durch sein Zutun.

      Und durch seine Schuld.

      Zobel brach der kalte Schweiß aus den Poren. In die Luft schießen, um den Grenzer abzulenken – schön und gut. Aber was dann? Dann, so war zu befürchten, würde der Kerl sich umdrehen und ihn mit Kugeln vollpumpen. Für ihn, den linientreuen Genossen, wahrscheinlich das Größte. Wer weiß, vielleicht würde er demnächst als Held gefeiert, mit Ehrungen überhäuft und als Musterbeispiel eines rechtschaffenen Staatsbürgers präsentiert werden. Bei denen da drüben, zumindest bei den Hundertprozentigen, musste man mit allem rechnen.

      Mit einer Kalaschnikow konnte man gleich reihenweise Leute abknallen, warum also nicht auch ihn?

      Zobels Griff, mit dem er seine Walther PPK umklammert hielt, erreichte die Schmerzgrenze, und während er auf seinen Kontrahenten zielte, begann die Hand, in der er die Waffe hielt, zu zittern. Eine Pistole Kaliber 7,65!, dachte er resigniert, was soll ich überhaupt damit? Zu wenig, um es mit einem NVAler aufnehmen zu können, zu viel, um hinterher nicht als Mörder dazustehen. Ein Schießeisen, wie man es aus Edgar-Wallace-Krimis kannte. Verglichen mit dem, was der Grenzer in der Hand hielt, der reinste Witz.

      Aber auch darauf kam es jetzt nicht mehr an. Die Waffe im Anschlag, trat der Fluchthelfer aus der Hoftürnische hervor, in die er sich beim Auftauchen des Grenzers gezwängt hatte. Die Zeit des Abwägens, ohnehin kurz genug, war vorüber. Jetzt war es an der Zeit zu handeln.

      Höchste Zeit, um Furrer, der um sein Leben rannte, aus der Patsche zu helfen.

      Jetzt gleich.

      *

      »Verdammt noch mal, warum schießt denn hier keiner!« Das war deutlich, mehr als deutlich. Und es waren die letzten Worte, die Egon Schultz, Kandidat der SED, aus dem Mund des Stasi-Mannes hörte.

      Die letzten, die er überhaupt hörte.

      Danach, innerhalb von Sekundenbruchteilen, durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Er genügte, um ihn außer Gefecht zu setzen, um ihn kurz innehalten, nach links taumeln und wie ein gefällter Baum zusammenbrechen zu lassen. Aber er reichte nicht aus, um ihn zu töten. Denn Schultz war ein Mann, der gelernt hatte, wieder aufzustehen. Das hatte ihm sein Vater, von Beruf Kraftfahrer, regelrecht eingebläut.

      Aufstehen, selbst wenn du denkst, es geht nicht mehr. Auch wenn es sinnlos, um nicht zu sagen unmöglich erscheint.

      Aufstehen, selbst wenn eine der beiden Kugeln, die dich treffen, in der Lunge steckt.

      Und so, unbemerkt von seinen Begleitern, allen voran dem NVA-Gefreiten Maier, rappelt sich Schulz auf, schwankend, nach Luft hechelnd und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Eine schier übermenschliche Anstrengung, die ihm, nicht weiter verwunderlich, nur zum Teil gelingt.

      Denn plötzlich, ohne dies zu bemerken, ist Kamerad Maier zur Stelle, die entsicherte Kalaschnikow in der Hand und wie alle anderen, die hinter ihm ins Freie drängten, nur von einem Wunsch beseelt: die Grenzverletzer, auf die sie es abgesehen hatten, an der Flucht zu hindern.

      Ein Unterfangen, das indes misslingt. Und das, obwohl Soldat Maier Dauerfeuer schießt, obwohl ein Feuerstoß nach dem anderen zwischen den Hofwänden widerhallt. Sämtliche Fluchthelfer, auch Zobel, können sich retten, in letzter Sekunde und dank des Tunnels, durch den sie wieder in den Westen gelangen.

      Sie haben überlebt, können ihr Glück kaum fassen.

      Nicht so Egon Schultz, der nicht nur kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech gehabt hat. Von insgesamt 10 Kugeln getroffen, bricht er unweit der Hoftür zusammen.

      Wobei der Großteil, nämlich acht, aus der Waffe seines Kameraden stammt.

      Ein Umstand, über den nichts, nicht einmal die leiseste Andeutung, an die Öffentlichkeit dringen durfte. Dafür würden die Verantwortlichen, allen voran die Stasi, sorgen.

      2

      RIAS-Reportage über den Fluchttunnel │05. 10. 1964

      RIAS: Wie haben sich die letzten … Minuten abgespielt, die ja die entscheidenden sind?

      Fluchthelfer: Es ist gut gelaufen, bis eben am fraglichen Abend – in der fraglichen Nacht – als Flüchtlinge getarnt zwei Männer erschienen, die vorgaben, noch einen anderen Mann holen zu wollen oder holen zu müssen. Wir waren aber nicht sicher, ob es nun Flüchtlinge waren oder keine Flüchtlinge. Wir hatten eben das Ultimatum gestellt, innerhalb von fünf Minuten zurückzukommen mit diesen neuen Flüchtlingen. Nach fünf Minuten kamen diese Männer mit dem dritten angekündigten Mann zurück. Diese drei Leute traten dann in den Hof und forderten uns mit entsicherter Maschinenpistole auf mitzukommen. In der darauf folgenden Schrecksekunde blieben wir natürlich starr stehen, dann rannten wir über den Hof. Die Vopos eröffneten sofort – ohne jede Warnung – und ohne jeglichen Aufruf das Feuer. Ich schätze, dass etwa 100, 150 oder – ich weiß nicht, wie viel – Schüsse auf uns abgegeben worden sind in einem Hof, der nicht größer ist als vielleicht sechs Meter auf drei Meter.

      RIAS: Das war aber auch der Schlussstrich unter die ganze Aktion. Wahrscheinlich hätten Sie noch weitermachen können, nicht?

      Fluchthelfer: Wir hätten noch weitermachen können, wir hätten es zumindest versucht, aber das war, wie gesagt, der Schlussstrich, und wir mussten daraufhin natürlich sofort die ganze Aktion abblasen.

      (Quelle: www.chronik-der-mauer.de)

      MYTHOS UND WAHRHEIT

      ›Der Unteroffizier war von Zobels Kugel im Oberkörper getroffen und an der Lunge verletzt worden. Tödlich aber waren die Kugeln von Volker M., die den verwundeten Egon Schultz trafen, als er sich gerade wieder aufrichtete.‹

      (DIE WELT, 30. 11. 2011)

      *

      ›Am 5. Oktober 1964, gegen 0.15 Uhr, wurde Unteroffizier Egon Schultz bei der Ausübung seines Dienstes an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zum NATO-Stützpunkt Westberlin von Westberliner Agenten durch gezielte Schüsse meuchlings ermordet. Die Mörder drangen durch einen von Westberlin vorgetriebenen Agententunnel, der mit Billigung und aktiver Unterstützung der Westberliner Polizei angelegt wurde, im Abschnitt Strelitzer Straße in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ein, um im Auftrag Westberliner Spionageorganisationen Personen illegal, unter Verletzung der Staatsgrenze zu schleusen.‹

      (Neues

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