Mühlviertler Rache. Eva Reichl
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»Dort!« Tobias wies mit dem ausgestreckten Arm in das Unterholz. Stern, der sich schon gefragt hatte, wie der Junge überhaupt dorthin gelangt war, ohne unzählige Male gebrennnesselt worden zu sein, trat vorsichtig die Urticas zur Seite und näherte sich Tobias. Als er ihn erreichte, bückte er sich zu ihm hinab, um denselben Blickwinkel zu haben wie er … Und dann sah er ihn! Er sah den Waldgeist seines Enkels! Und den Kopf des Opfers! Die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem Schrei geformt, der wahrscheinlich in der letzten Sekunde seiner Kehle entrissen worden war, bevor ihn der Zug überrollt hatte. Ein Schrei von allen ungehört. Außer vielleicht vom Täter.
Sofort legte Stern die Hand auf Tobias’ Augen.
»Aber Opa, ich hab ihn doch schon gesehen, bevor du gekommen bist«, rief Tobias entrüstet und befreite sich von seinem Großvater.
»Das ist nichts für dich«, brummte Stern. Er zog seinen Enkel hoch, weg von der Stelle, wo der vermeintliche Waldgeist unaufhörlich Löcher ins Gestrüpp starrte. Das würde er so lange tun, bis ihn jemand davon erlöste. Dieser Jemand sollte Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht sein, beschloss Stern.
»Grünbrecht!«, rief er nach der Kollegin, die sofort herbeieilte und sich dorthin wandte, wohin Stern kommentarlos mit dem Finger zeigte. Dass ihr Chef seinen Enkel von der Stelle wegzerrte, war Erklärung genug.
»Hab ich dir und deinen Kollegen helfen können?«, fragte Tobias, während Stern ihn neben den Lokführer auf die Trage des Rettungswagens hob und einen Becher Tee für den Jungen und für sich selbst einen gefüllt mit Kaffee orderte. Der Sanitäter verdrehte die Augen und meinte, dass dies keine Cafeteria sei. Doch als Stern eine Erklärung folgen ließ, die beinhaltete, dass der Junge möglicherweise einen schweren Schock erlitten habe, weil er den Kopf der Leiche gefunden hatte, waren Tee und Kaffee umgehend im Anmarsch.
»Du hast uns sehr geholfen«, antwortete Stern und packte Tobias beidseitig an den Schultern. Er sah ihm tief in die Augen, um herauszufinden, wie es dem Jungen ging. Anscheinend hatte er den Anblick des abgetrennten Kopfes gut überstanden. »Jetzt können wir die Lei… äh, den Waldgeist wahrscheinlich identifizieren.«
»Toll!« Tobias strahlte übers ganze Gesicht. Das wunderte Stern. So ein Anblick müsste doch Spuren im Gemüt des Neunjährigen hinterlassen haben, ihn zum Weinen bringen, ihn sich übergeben oder zumindest sich fürchten lassen.
»Untersuchen Sie ihn!«, befahl Stern dem Sanitäter. »Herz, Kreislauf, alles, was dazugehört. Ich will, dass Sie alles an ihm checken. Sogar den kleinen Zeh!«
»Aber Opa, mir fehlt gar nichts«, widersetzte sich Tobias den Anweisungen des Großvaters und sprang von der Trage herunter.
»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Stern und verfrachtete seinen Enkel zurück in den Rettungswagen. Zumindest war er dort für die nächsten Minuten sicher und es war gewährleistet, dass er nicht auch noch die fehlende abgetrennte Hand fand. »Du lässt dich jetzt von dem netten Herrn untersuchen und danach fahren wir auf ein Eis.«
»Versprochen?«, quiekte Tobias aufgeregt. Zuerst eine Leiche und dann ein Eis – das war der Jackpot für den Neunjährigen! Freudig streckte er seinem Großvater die Hand entgegen.
Der schlug ein und sagte: »Versprochen!« Danach wandte er sich ab und überließ Tobias dem Sanitäter, der sich sofort um den Jungen kümmerte.
Stern ging zurück zu Mara Grünbrecht und jener Stelle, an der Tobias den Kopf des Opfers gefunden hatte. Nun steckte er in einem Plastikbeutel und sah aus wie ein Dekorationsstück aus der Geisterbahn des Wiener Praters.
»Der gehört zweifellos unserem Mann«, sagte Grünbrecht.
»Natürlich gehört er dem Opfer. So viele Kopflose wird es hier im Mühlviertel ja wohl nicht geben«, brummte Stern, nicht ahnend, wie falsch er damit lag.
2. Kapitel
Chefinspektor Oskar Stern lenkte den Audi A6 auf der Leonfeldner Straße zurück nach Linz, auf der Rücksitzbank saßen seine beiden Enkel. Beide waren gutgelaunt, und Tobias erzählte Melanie alles, was sich vor gut einer Stunde zugetragen hatte. Die Zwölfjährige hatte aufgrund eines Handyspieles nicht viel von Tobias’ Fund mitbekommen und lauschte gespannt den aufgeregten Worten ihres Bruders.
Stern hatte Tobias ein Eis versprochen, und dieses Versprechen wollte er nun einlösen, am besten im Café Jindrak am Pöstlingberg. Anschließend ging es zum Zwergerlschnäuzen in die Grottenbahn. Das war bestimmt gut für die Kinder. Denn warum der Neunjährige derart gute Laune versprühte, war dem Chefinspektor noch immer ein Rätsel. Der Anblick des Kopfes hätte ihn eigentlich traumatisieren müssen, war sich Stern sicher. Wie es aussah, reagierte Tobias nicht wie ein normales Kind auf Derartiges. Der Junge hatte ihn sogar gefragt, ob er ein Foto von dem Schreckgespinst aller Kinder machen dürfe, was Stern natürlich abgelehnt hatte. Heutzutage posteten die Kids doch alles auf Twitter oder Instagram. Da fehlte es ihm noch, dass, bevor die Kriminalpolizei wusste, wer das Opfer war, eines seiner Körperteile die Runde in den sozialen Netzwerken machte.
Endlich erreichten sie die Landeshauptstadt. Der Audi erklomm gemächlich den Pöstlingberg, der sich über das linke Donauufer von Linz emporhob. Wie jedes Mal, wenn Stern hierherfuhr, genoss er die Aussicht über die Stadt und die Umgebung. Tobias quäkte aufgeregt am Rücksitz, dass Stern sich beeilen solle, da er endlich in der Grottenbahn eine Runde auf dem Rücken des Drachen, an den Zwergen vorbei, drehen wolle, doch der Chefinspektor ließ sich nicht drängen. Er parkte den Wagen gut hundert Meter unter der Basilika zu den Sieben Schmerzen Mariä, der barocken, römisch-katholischen Pfarr- und Wallfahrtskirche auf der Kuppe des Pöstlingbergs. Dann stieg er gemächlich aus und spazierte zu der Aussichtsplattform. Tobias hüpfte aufgeregt neben ihm her, Melanie hingegen wirkte eher gelangweilt. Weder konnte sie die Aussicht auf Linz beeindrucken, auf das Kunstmuseum Lentos, das Ars Electronica Center oder die Donaulände, welche ergeben zu ihren Füßen lagen, noch jene auf den Besuch der Grottenbahn. Für Zwerge und Märchen sei sie zu alt, hatte sie während der Fahrt mehrmals bekundetet, was an Sterns Plänen jedoch nichts geändert hatte. Die Kinder brauchten einen Gegenpol zu dem eben Erlebten, redete er sich ein, und da war die Linzer Grottenbahn genau das Richtige. Mit ihrer Märchenwelt in einem der Befestigungstürme des Maximilianischen Befestigungsrings der Stadt und dem elektrisch betriebenen Zug in Drachengestalt, der durch den äußeren Ring des Wehrturms fuhr, vermochte sie jedes Kinderherz zu begeistern.
»Komm, Opa! Lass uns endlich das Eis essen und dann in die Grottenbahn gehen!«, forderte Tobias Sterns Versprechen vehement ein.
»Das machen wir ja gleich«, sagte Stern lachend und löste seinen Blick von der wunderbaren Aussicht über die Landeshauptstadt. Er folgte seinen Enkelkindern zum Café Jindrak, zu dem sie den Weg bereits kannten. Diese Attraktion hier oben auf der Spitze des Pöstlingberges besuchten sie jedes Jahr. Bei diesen Gelegenheiten kamen sie allerdings mit der Pöstlingbergbahn her, einer der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt, die vom Linzer Hauptplatz direkt herauffuhr.
Vor dem Eingang des Cafés warteten die Kinder. Stern zog für sie die Tür auf und ließ sie ein. Sie setzten sich auf die gemütliche Sommerterrasse und bestellten einen Bananensplitt, einen Früchtebecher und einen Eiskaffee.
»Erzähl noch mal, wie hat er ausgesehen?«, fragte Melanie zum wiederholten Mal ihren Bruder. Wahrscheinlich bereute sie es längst, dass sie wie üblich auf ihr Handy geglotzt hatte und dadurch das wahre Leben an ihr vorbeigezogen war wie Nebelschwaden, die man nicht aufzuhalten vermochte. Stern hingegen würde gern mal das Thema wechseln. Er rechnete noch immer mit einem spät einsetzenden Schock bei seinem Enkel.
»Er