Jedes Kind darf glücklich sein. Maren Hoff

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Jedes Kind darf glücklich sein - Maren Hoff

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schwer korrumpiert, verdreht und missbraucht worden. Es ist für uns deshalb mehr als wichtig, achtsam mit Begriffen und Gefühlen zum Thema Ahnen umzugehen. Aber niemand von uns kommt aus dem Nichts, jeder ist verbunden mit denen, die vor uns gegangen sind – so wie mit denen, die nach uns kommen werden.

      Wenn wir bereits Kinder haben, dann ist uns vielleicht schon irgendwie klar: Auch wir werden einmal Ahnen sein. Was wollen wir dann weitergeben? Wie viel Verständnis, Achtsamkeit, Selbstvertrauen, Kraft zur Vergebung wollen wir verschenken? Wie gute Ahnen wollen wir einmal werden?

      Denn Ahnen zu haben, kann eine Quelle der Kraft und Unterstützung sein.

      Wurzeln und Prägung. Unsere Ahnen

      »Walking, I am listening to a deeper way. Suddenly, all my ancestors are behind me. Be still, they say. Watch and listen. You are the result of the love of thousands.

      Wenn ich gehe, nehme ich einen tiefer liegenden Weg wahr. Auf einmal sind all meine Ahnen hinter mir. Sei still, sagen sie. Sieh und höre. Du bist aus der Liebe von Tausenden hervorgegangen.«

      LINDA K. HOGAN, CHICKASAW NATION

      WER SIND EIGENTLICH UNSERE AHNEN?

      Als ich begann, mich mit meiner Familie zu beschäftigen, da hatte ich eigentlich gar nicht meine Ahnen im Sinn. Wir sollten in der Schule eine Projektarbeit über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erstellen. Unsere sehr fortschrittliche Lehrerin hatte uns erlaubt, dafür jede Medienform zu wählen, die uns passend erschien: Meine Freundin und ich entschieden uns für ein Hörspiel und dachten uns, wir interviewen am besten unsere Großmütter. Beide lebten noch, die eine hatte den Krieg im beschützten Südschwarzwald erlebt, die andere war aus Ostpreußen schon mit 17 Jahren als Krankenschwester auf Flüchtlingsschiffe beordert worden und dreimal untergegangen. Wir Enkelinnen dachten uns, dies würde doch einen ganz interessanten Gegensatz an Erfahrungen zeigen. Bis dahin hatte ich meine Großmutter niemals über ihre Geschichte, geschweige denn ihre Gefühle befragt. Ich wusste nur, was in Nebensätzen fallen gelassen wurde, hatte mich aber nie getraut, nachzufragen.

      Es erschien mir unvorstellbar, im Winter mit einem Schiff unterzugehen. Unvorstellbarer, so etwas dreimal zu erleben. Und noch unvorstellbarer, dabei Tausenden Menschen beim Ertrinken zusehen zu müssen. Mit 17! Ich war gerade 15 Jahre alt und musste mir überlegen, was ich überhaupt fragen wollte. Es sollte zwar um die Nachkriegszeit gehen, aber Nachkrieg geht irgendwie nicht ohne Krieg. Meine Großmutter hatte eingewilligt, mir Antworten zu geben, und so kam es, dass ich in den Herbstferien in ihrem verrauchten, mir so vertrauten Wohnzimmer saß und zu fragen begann:

       Wo warst du am 8. Mai 1945?

       Wie war der Winter nach Kriegsende?

       Warst du allein?

       Wann und wie hast du deine Familie wiedergefunden?

       Was war das Wichtigste für dich?

       Wer war überhaupt deine Familie?

      Da war sie, die Frage: Wer war denn überhaupt deine Familie? Zum ersten Mal hörte ich die Namen der Menschen, die vor mir gelebt hatten. Namen von Brüdern und Schwestern meiner Großmutter, die Namen ihrer Mutter, des Vaters, der Großeltern. Namen von Menschen, zu denen es keine Bilder mehr gab, die aber gelebt hatten, die geliebt worden waren und die irgendwie, auf mysteriöse Art und Weise, zu meiner Familie und auch zu mir gehörten.

      Meine Ahnen. Dieses Wort kam erst viel, viel später zu mir. Damals nannte ich sie meine Verwandten.

      Bald erzählte meine Großmutter von allein: Wie schwierig die Winter waren. Von der Kälte und wie wenig es zu essen gab. Wie sie geklaut hatte. Hamsterfahrten gemacht hatte. Wie sie nach dem Krieg erst auf der Ostseite der Elbe untergebracht worden war und eines Nachts durch den Fluss schwamm, um nicht in der russischen Zone zu bleiben.

      Was sie sich 1948 vom ersten Geld der Währungsreform gekauft hat, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: Kirschen. Ich sehe meine Großmutter vor mir, eine junge Frau von gerade 22 Jahren, wie sie auf dem Markt das erste Mal seit vielen Jahren pralle rote Kirschen kauft. Ein schönes Bild. Nie kann ich seither Kirschen essen, ohne ihr leuchtendes Gesicht vor Augen zu haben. Diese Freude nach all den Jahren der Entbehrung!

      Es geht vielleicht vielen so wie mir – die Vorfahren sind eine große Unbekannte in der Gleichung der Familie. Und selbst wenn wir ihre Namen kennen: Wer von uns kennt ihre Geschichten?

      Ihre Erinnerung wurde zu meiner Erinnerung und prägt mein Gefühl zu Kirschen bis heute. Sie erzählte auch, wie sie ihre jüngeren Schwestern wiederfand. Dass die Brüder im Krieg geblieben waren. Als würde der Krieg immer noch wüten und als würden die Brüder für immer in ihm gefangen sein. Dass der Vater auf dem Flüchtlingstreck zur letzten Mobilisierung eingezogen worden und damit für immer verschwunden war. Dass die Mutter schon früh gestorben war, lange vor dem Krieg. Da war meine Großmutter sieben Jahre alt gewesen. Dass sie ihr immer noch fehlte. Vor mir breitete sich eine Geschichte aus, voll von Menschen, zu denen ich gehörte und ohne die ich nicht in diese Welt gekommen wäre, nicht leben würde. Und dennoch waren sie unendlich weit entfernt von mir.

      Die Großmutter meiner Freundin hatte den Krieg behütet und ruhig in einem Tal des südlichen Schwarzwaldes erlebt. Aber auch hier waren die jungen Männer weggegangen und nie wiedergekommen. Gemeinsam war den Erzählungen der beiden Großmütter, dass die besonders traumatischen Erfahrungen des Krieges nicht zur Sprache gekommen waren: die schweren seelischen Verwundungen, wie sie durch den Verlust von geliebten Menschen, durch Gewalt, Verrohung, Flucht, Vergewaltigung, Hunger und vieles andere verursacht wurden. Dabei sind sie erlebt worden, nicht nur vor 75 Jahren und nicht nur in Europa! Auch heute erleben Menschen überall auf der Welt individuelle und kollektive Traumen. Keine Familie – ich wage zu behaupten: auf der ganzen Welt – kann auf ausschließlich ideale Erfahrungen in der Ahnenreihe zurückblicken.

      Unsere Vorfahren, die den Zweiten Weltkrieg mit verursachten und erlebten, haben ihr Urvertrauen verloren. Sie mussten die Erfahrung machen, dass nichts in dieser Welt sicher ist und dass sogar das Unvorstellbarste geschehen kann. Die eigenen Kinder ohne ein Gefühl des Urvertrauens und der damit möglichen emotionalen Offenheit zu erziehen, hinterlässt wiederum bleibende Verletzungen bei den Kindern, deren Ursache diese später kaum mehr zuordnen können. Die meisten von uns bewegen sich dennoch durch die Welt, wir leben, arbeiten und gehen Beziehungen ein, als gehörten wir zu dem – eventuell existierenden – geringen Prozentsatz an Menschen, deren Familien kein Trauma erlebt haben. Angesichts unserer kollektiven Vergangenheit scheint das jedoch schlicht und ergreifend realitätsfern.

      Besonders traumatische Erlebnisse wie Kriege bringen Menschen dazu, Schmerz zu verdrängen, um überleben zu können. Dicke innere Schutzwälle müssen gebaut werden, denn das Herz kann so viel Kummer kaum ertragen.

      Es geht hier allerdings nicht darum, einem Menschen ein Trauma unterzuschieben, das er oder sie gar nicht als solches erlebt. Wir haben vielleicht oft eine glückliche Erinnerung an unsere Kindheit, und wenn das so ist, dann soll das auch so bleiben. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass wir durch Generationen vor uns und ihre Handlungsweisen stark geprägt sein können und dass wir die Wahl haben, ob wir die Prägung positiv oder negativ einordnen und ob wir sie weitergeben wollen.

      TRAUMEN UND SEELISCHE WUNDEN

      Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Er bezeichnet im heutigen Kontext allerdings nicht eine physische Wunde, sondern er steht für eine seelische Verletzung, die durch physische oder psychische Gewalteinwirkung hervorgerufen wird und

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