Der tiefe Graben. Ezra Klein

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Der tiefe Graben - Ezra Klein

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öffentliche, staatlich finanzierte Krankenversicherung für ältere Bürger. 2010 stimmte nicht ein einziger Republikaner im Kongress für Obamacare, ein Bundesgesetz, das den Zugang zur Krankenversicherung neu regeln sollte und nach dem Vorbild des Systems gestaltet war, das der republikanische Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, eingeführt hatte. Egal welcher Definition zufolge, das System von 2010 war stärker sortiert und polarisiert als das System von 1965. Meinungen waren besser nach Parteien ausgerichtet, und weniger Politiker fanden sich in der Mitte wieder.

      Doch war das System von 2010 ideologisch extremer? Unter Zugrundelegung unserer üblichen ideologischen Definitionen würde ich argumentieren, nein, das war es nicht. Obamacare war ein öffentlich-privates System mit republikanischen Wurzeln, solide finanziert durch eine Mischung aus Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. Bei Medicare dagegen übernahm eine liberale Regierung die Gesundheitsfürsorge für die Älteren und schuf eine nach oben offene Anzahl von Berechtigten, ohne verbindlich zu regeln, wie die vollen Kosten dafür aufzubringen seien.

      Und dies bedeutet, dass ideologischer Extremismus ein Konzept ist, das auf den ersten Blick einer inneren Logik folgt, was ich ebenfalls bezweifle. Was macht ein nationales, staatlich betriebenes Krankenversicherungssystem »extremer« als ein Mischsystem, das dazu führt, dass Millionen von Menschen unterversichert sind? Ersteres wird innerhalb des Handlungsrahmens amerikanischer Politik als radikaler behandelt, doch gemessen an den Standards anderer hochentwickelter Industriestaaten ist das radikale (und grausame) das letztere.

      Oder, um wieder auf die Hauptgeschichte dieses Kapitels zurückzukommen: In der Ära, in der Washington am wenigsten polarisiert war, ruhte der politische Konsens auf einem Fundament rassistischer Bigotterie, das die meisten von uns heute verabscheuenswürdig fänden. Die Kompromisse, die der Kongress einging, um den Frieden zu wahren, umfassten auch das Niederstimmen von Gesetzen gegen Lynchjustiz und die Übereinkunft, einem Großteil der Afroamerikaner den Zugang zu den Sozialsystemen zu verwehren. Ich würde das ein ideologisch weitaus extremeres System nennen als das, welches wir heute haben, auch wenn es weniger polarisiert war.

      Politikwissenschaftler sind sich einig, dass um die Mitte des 20. Jahrhunderts die politische Polarisierung ihren Tiefststand erreicht hatte, insbesondere im Kongress. Doch die Mitte des 20. Jahrhunderts war keine Ära, in der die Welt außerhalb Washingtons abgeklärt oder moderat war. Es war die Zeit des Joseph McCarthy, des Vietnamkriegs und der Wehrdienstverweigerer. Es war eine Zeit politischer Morde, eine Zeit, in der Bürgerrechtsaktivisten auf Brücken zusammengeschlagen wurden, eine Zeit des autoritären Regierens im Süden, eine Zeit, in der Feministinnen auf den Straßen marschierten und amerikanische Ureinwohner Alcatraz besetzten. Die Ironie liegt darin, dass das politische System der USA am ruhigsten und am wenigsten polarisiert war, als Amerika selbst kurz davorzustehen schien auseinanderzubrechen.

      Sie werden Fachexperten häufig von der »gemäßigten Majorität« sprechen hören. Doch wie der Politikwissenschaftler David Broockman gezeigt hat, neigen diese sogenannten Gemäßigten dazu, extremere Positionen einzunehmen als Liberale oder Konservative. Und das funktioniert so: Ein Wahlberichterstatter befragt die Leute nach ihrer Position zu einer breiten Anzahl von Themen: die Legalisierung von Marihuana, den Krieg im Irak, eine allgemeine Krankenversicherung, Homoehe, Steuer, Klimawandel und so fort. Anschließend werden die Antworten als links oder rechts eingeordnet. Menschen, deren Antworten zum Teil als links und zum Teil als rechts einzuordnen sind, finden sich dem Durchschnitt entsprechend in der Mitte wieder – und bekommen das Etikett »gemäßigt« verpasst.

      Doch das sind sie nicht. Sie sind bloß innerlich unsortiert. Sieht man sich diese individuellen Antworten einmal ganz genau an, dann findet man eine Reihe von Meinungen, die so gar nicht zum politischen Mainstream gehören. »Viele Leute sind der Meinung, wir sollten ein allgemeines Krankenversicherungssystem haben, das vom Staat geführt wird, wie die Briten«, erzählte mir Broockman. »Viele Leute sagen, wir sollten alle Einwanderer ohne gültige Papiere sofort und ohne ordentliches Gerichtsverfahren ausweisen. Man sieht des Öfteren, dass echt drakonische Maßnahmen gegenüber Schwulen und Lesben zwischen 16 und 20 Prozent Unterstützung bekommen. Diese Menschen wirken wie Gemäßigte, sind aber tatsächlich ziemlich extrem.«[17]

      Wenn Polarisierung von der Bindung zu politischen Parteien angetrieben wird, kann sie mäßigend wirken. Politische Parteien wollen Wahlen gewinnen, daher versuchen sie, sich für Konzepte starkzumachen, die dafür sorgen, dass ihre Kandidaten an der Wahlurne keine vernichtende Niederlage einfahren. Menschen, die sich nicht an die eine oder andere Partei gebunden fühlen, haben die Freiheit, viel unpopulärere Meinungen zu haben.

      Extremismus ist ein Werturteil. Für Amerikaner des frühen 20. Jahrhunderts wäre unsere heutige, weitverbreitete Akzeptanz von Mischehen und Homoehen extrem. Vielen von uns erscheint der ideologische Konsens, der erwachsene Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft oder desselben Geschlechts dauerhaft daran hinderte, ein glückliches, von Liebe geprägtes Leben miteinander zu führen, gemein und dumm. Heute werden Veganer als Extremisten verunglimpft. Ich hoffe, dass in Zukunft das Leid, das wir Tieren durch unsere hochindustrialisierte Landwirtschaft aufzwingen, als schockierende Position gilt. Wenn ich sage, die politischen Bündnisse sortieren und polarisieren sich stärker, dann meine ich damit nur: Es gibt weniger ideologische Überschneidungen, weniger von uns sind in der Mitte gefangen, und es herrscht mehr Spannung zwischen den Polen. Nichts an diesen Dynamiken macht die Meinungen, die Parteigänger 2020 haben, extremer als die ihrer Vorfahren. Banale Ansichten, die in der damaligen Zeit massenweise vertreten wurden, würden heute dazu führen, dass sie nicht salonfähig wären, und das zu Recht.

      Gleichwohl bleibt festzustellen: Während der Grad an Extremismus in unserer Politik häufig überschätzt wird, wird der erstaunliche Umfang, in dem wir uns sortiert und polarisiert haben, oftmals unterschätzt und damit auch seine Implikationen für unsere Zukunft.

      Eine sortierte Nation

      Die Verabschiedung des Civil Rights Act läutete den Tod der Dixiekraten ein. Der Tod der Dixiekraten machte Konservativen aus den Südstaaten den Weg in die Republikanische Partei frei und Liberalen aus den Nordstaaten den Weg in die Demokratische Partei. Dies führte dazu, dass sich die Parteien ideologisch sortierten und dass es im Repräsentantenhaus keine Demokraten mehr gibt, die konservativer sind als jeder Republikaner und umgekehrt. Und mit dieser grundlegenden Klärung sortierten sich die Parteien auch um praktisch alles andere herum. Diese Transformation hat dafür gesorgt, dass die beiden Parteien von Koalitionen, die ähnlich aussahen, ein ähnliches Leben lebten und nur ein bisschen unterschiedlich dachten, zu zwei miteinander Krieg führenden Lagern wurden, die verschieden aussehen, verschiedene Leben an verschiedenen Orten leben und in einem ständig sich vertiefenden Dissens liegen.

      In ihrem Buch Uncivil Agreement: How Politics Became Our Identity bietet die Politikwissenschaftlerin Lilliana Mason einen phantastischen Überblick darüber, wie sich die Parteien in den letzten Jahren verändert haben. 1952, schreibt sie, waren die demographischen Unterschiede zwischen den Parteien moderat. Mit Ausnahme der Südstaatler (die, wie wir gesehen haben, Demokraten waren) und der Protestanten (die den Republikanern zuneigten) gab es bei keiner der großen demographischen Gruppen »einen Unterschied von mehr als zehn Prozentpunkten zwischen dem in jeder der beiden Parteien vertretenen Anteil ihrer Mitglieder«.[18] Die Demokratische und die Republikanische Partei sahen also halbwegs ähnlich aus, was die Repräsentation von Afroamerikanern und Weißen, Frauen und Männern, verheirateten und unverheirateten Wählern betraf. Sogar Liberale waren in der Demokratischen Partei nur leicht stärker vertreten.

      Dies ist, um es mal höflich auszudrücken, inzwischen nicht mehr der Fall. Bei den Präsidentschaftswahlen 1952 fand der American National Election Survey heraus, dass sechs Prozent der selbsterklärten Demokraten und zwei Prozent der selbsterklärten Republikaner Nichtweiße waren. 2012 kam die gleiche Umfrage zu dem Ergebnis, dass 43 Prozent der selbsterklärten Demokraten, jedoch nur neun Prozent der selbsterklärten Republikaner Nichtweiße waren.[19] Also war die Wählerschaft 2012 nicht nur ethnisch sehr, sehr viel diverser als die Wählerschaft 1952, sondern

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