als die wahrheit noch männlich und katholisch war. Franziska Maria Papst
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Zumindest in Sachen Mode lernte ich Entscheidungen aus mir heraus zu treffen. Eines Tages stolperte ich über eine lilafarbene Wolljacke. Ich weiß nicht, ob sie modern oder unmodern war. Tatsache war: sie gefiel mir und ich fand, die Farbe passte zu mir. Ich kaufte sie und war stolz auf meine selbst getätigte Auswahl. In den Wochen darauf wurde die Jacke nicht nur zu meinem Lieblingsstück, sondern gleichzeitig zu einem Experiment. Die Reaktionen reichten von „wunderschöne Jacke“ bis zu „ist das ein hässlicher Fetzen“.
In der banalen Modewelt lernte ich: Schönheit und Wahrheit (Richtigkeit) sind relativ und Schönheit hat schon gar nichts mit gut oder Bessersein zu tun. Es war mein Umfeld, dass gleichzeitig etwas Schönes als gut suggerierte und etwas Hässliches zu einer negativen Eigenschaft machte. (Oder etwas Gutes als schön, und etwas Schlechtes als hässlich darstellte.) Aber kann eine lila Jacke schlecht sein? Sie kann bestenfalls hässlich sein.
Ausgrenzung mit gleichzeitig moralischer Bewertung sollte etwas sein, was ich erst sehr spät reflektierte und als gefährlich wahrnahm. Damals hat es mein Unterbewusstsein geprägt. Die Polarisierung der Katholischen gegen die Evangelischen hinterließ in mir ein moralisches Gefühl des Besser-Seins. Ausgrenzung durch moralische Bewertung erzeugt ein Wir-Gefühl. Das hat immer funktioniert und es funktionierte auch bei mir.
1 Vgl.1Kön 17,8-24
2 Vgl. Lk 19,1-10
3 Vgl. Mk 10,17-27
2. LEBEN UND LEBEN LASSEN
Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. (Jer 1,5)
großtante maria
Jedes Jahr im Sommer tauchte ich in eine andere Welt. Meine Eltern schickten uns Kinder zu Großtante Maria aufs Land. Ich liebte meine Tante. Sie war unverheiratet und hatte keine eigenen Kinder. Ihr gehörte das Lebensmittelgeschäft im Ort. Dort gab es alles zu kaufen. Es war wie im Paradies. Ich liebte es dort zu sitzen und die vollen Regale zu bestaunen. Ich fühlte so etwas wie Ehrfurcht vor den Sachen. Sie hatten den Duft meiner Tante – feucht, frisch und irgendwie heilig. Nach meiner Tante zu riechen, war etwas Besonderes. Es wäre mir nie eingefallen irgendetwas davon ungefragt auch nur in die Hand zu nehmen. Ähnliches fühlte ich im Haus von Tante Maria.
Das alte Handwerkerhaus mit seinen zwei Stockwerken lag im Schatten direkt unter einem Berghang und hatte trotz seiner modrigen Feuchte etwas Heimeliges und gleichzeitig Ehrfürchtiges. Wir Kinder hatten unser eigenes Reich, direkt unter dem Dach. Es war mehr als nur ein Schlafzimmer. Es war ein eigenes Reich mit Dachbodentüren, alten Möbeln und Winkeln, in denen man sich wunderbar verstecken und über das Leben nachsinnen konnte. Es gab ein Zimmer voller Bücher und einen Fernseher. Ich sah mir im Fernsehen alles an, was ich durfte. (Das war damals noch nicht viel. Es gab ja nur zwei Programme und die nur am späten Nachmittag und am Abend).
Doch da waren die Bücher. Zwei riesengroße prallgefüllte Wandregale voll. Eine richtige Bibliothek. Von Goethes Faust bis zu Johannes Maria Simmel las ich der Reihe nach was mir unter die Finger kam und so hatte ich bald ein ziemlich umfangreiches Wissen über Literatur und Kunst. Wenn ich abends im Bett lag, machte ich Weltreisen im Kopf. Tante Marias Haus erschien mir wie ein Flugticket in die große, weite Welt.
Das Dorf meiner Tante war ein abgelegenes, architektonisch unscheinbares Dorf in den Bergen, das wenig Sonnenschein und viel Regen abbekam. Aus irgendeinem Grund gab es dort ein Luxushotel, das sich auf Kurgäste mit Atembeschwerden spezialisiert hatte. So frisch und klar und unverbraucht sei die Luft, schwärmten die Besucher. So kam es, dass dort immer wieder die schrägsten Vögel abstiegen, die dann in den Sommermonaten das bescheidene Dorf bevölkerten. Ich liebte es, um das Hotel herumzuschleichen und die verschiedensten Leute zu beobachten.
Diese fremde Welt faszinierte mich jedes Mal aufs Neue. Sie lag außerhalb meines bisherigen Erfahrungshorizontes und machte mich neugierig. Was gab es nicht alles zu entdecken! Stundenlang konnte ich auf dem kleinen Abhang sitzen, der dem Haupteingang schräg gegenüberlag. Still und ruhig saß ich im Schatten eines Busches und bemühte mich nicht aufzufallen. Wenn ich das Luxushotel auch nur von außen betrachten konnte, so inspirierten mich schon alleine die Düfte fremder Menschen, die wie Mücken eines heißen Sommertages über meinen Kopf schwirrten. Ich fragte mich, womit die Menschen ihr Geld verdienten, was sie dachten und was sie glaubten. Schon bald hatte ich zu jedem Besucher eine Geschichte erfunden. Ich glaubte zu wissen woher er kam und was er am liebsten tat.
Trotz der Ferien war die Zeit bei unserer Tante ganz normaler Alltag. Die Tagesstruktur erschien uns selbstverständlich und doch war es anders. Wir verbrachten unsere Zeit mit Spielen oder Lesen, trafen uns mit den Kindern aus dem Ort und halfen mit, wo wir konnten. Vor dem Essen wurde ein Tischgebet gesprochen und es wurde darauf geachtet, dass wir uns sauber anzogen, uns ordentlich benahmen und Danke und Bitte sagten. Es war streng. Aber es war nicht verdreht. Es war eine Welt voller Riten und nicht voller Regeln. Das, was wir zu tun hatten, machte Sinn. Ich denke, es war authentisch und nicht aufgesetzt. Tante Maria sagte und lebte was sie dachte.
Die Zeit bei Tante Maria inspirierte mich und machte mich neugierig auf etwas, das ich von daheim nicht kannte. Es war die Frage nach dem Sinn von Wissen und die Sehnsucht nach Freiheit im Denken. Ich eignete mir bei meiner Tante eine große Allgemeinbildung an und entwickelte ein Gefühl für Authentizität, was mir jedoch später zum Problem werden sollte. Denn was Authentizität im Kontext von Gehorsam bedeutet, habe ich erst viel später verstanden. Anfangs hatte ich nur ein diffuses Gefühl, dass mit meinem Wissen etwas nicht stimmte.
Im Allgemeinen kam meine Bildung gut an. Wenn ich bei Familienfeiern mit meinen literarischen Kenntnissen protzte, gab es wohlwollende Ermunterungen von diversen Onkeln und Tanten. Doch obwohl ich mit meinem Wissen beeindrucken konnte, hatte ich selbst immer das Gefühl, dass es irgendwie nicht echt war. Unechtes Wissen? Wie sollte ich das verstehen?
Es war wie in der Schule. Es war Wissen, gut und schön, aber ich wurde das Empfinden nicht los, dass all diese Bildung in der Luft zu hängen schien. Es waren Worte, die, wie losgerissene Papierdrachen im Herbstwind, ziellos durch die Luft torkelten, um schließlich geknickt in irgendeiner Baumkrone zu landen. Mein Wissen fühlte sich wie ein reines Anhäufen von Fakten und Daten an, die in meinem Gehirn schwirrten und keine Logik hatten. Mein Kopf war Tag und Nacht beschäftigt. Er arbeitete wie eine Registrierkasse, die Daten und Zahlen speicherte und abrechnete. Doch es war trügerisches, wertloses Wissen, ohne Sinn und ohne Ziel. Trotz aller Sachkenntnis war es, als ob ich vor einer riesengroßen Mauer stehen würde, die bunt mit vielen gescheiten Dingen zugeklebt war. Jedoch war es streng verboten, hinter die Mauer zu schauen.
Es war im Grunde die gleiche Mauer, wie die, die ich aus meiner Kindheit kannte, in die ich hineinkriechen konnte und die Geschichten erzählte. Aber als ich nicht hinein in die Löcher der Phantasiewelt, sondern darüber hinaus in die Realität schauen wollte, wollte es mir nicht gelingen. Meine Sehnsucht nach dem, was ich hinter diesen Steinblöcken vermutete, wuchs.
Rückblickend weiß ich, dass dieses Mauer-Gefühl besonders stark war, wenn ich nach den Ferien wieder nach Hause zurückkehrte. Das mochte wohl an der Freiheit liegen, die ich bei Tante Maria erfahren konnte. Ich erlebte bei ihr eine Weite im Denken, die daheim nicht erlaubt war.
Im unscheinbaren Dorf meiner Tante schnupperte ich den Duft der großen fernen Welt. Wenn ich an so manchen Sommertagen neugierig auf der Straße zum Hotel saß, sah ich mir die Männer an und beschloss, sobald ich erwachsen wäre, einen davon zu heiraten. Er würde mir ferne Länder zeigen und mich fremde Kulturen lehren. In diesen kurzen Momenten der Freiheit ahnte ich, dass es da etwas geben