Blutdorf. Rolf Eversheim
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Für Schober war die Sache klar. »Der Deutsch Drahthaar ist nun mal der Allrounder unter den Jagdhunden. Er sucht mit seiner feinen Nase planmäßig das Gelände ab. Gefundenem Wild steht er vor, um es seinem Herrn anzuzeigen, der so ruhig zu Schluss kommen kann. Der Deutsch Drahthaar sucht geschossenes und krankes Wild mit großer Konzentration nach. Durch seine Ruhe und Konzentrationsfähigkeit gepaart mit eisernem Durchhaltewillen bringt der Deutsch Drahthaar auch auf Schweißfährte Höchstleistungen, selbst wenn die Spur des kranken Wildes vierzig Stunden alt ist. Kurzum, mit einem Deutsch Drahthaar ist man immer in guter Gesellschaft.«
Mülenberk hielt dagegen: »Dackel sind Jagdhunde mit langer Tradition. Sie sind mutig, selbstbewusst, einfallsreich und kämpferisch. Ich gebe zu, dass ihr stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein den Dackeln einen schlechten Ruf beschert, das hat allerdings nichts mit Starrköpfigkeit zu tun, vielmehr benötigen Dackel gerade diese Eigenschaft dringend, wenn sie sich in den Bau eines Fuchses oder Dachses begeben, um ihn aus seinem Heim zu verjagen und dem draußen wartenden Jäger vor die Flinte zu bringen. Im Bau sind sie auf sich alleine gestellt und müssen nun mal ihre eigenen Entscheidungen treffen. Da die Reaktion des Baubewohners nicht absehbar ist, muss ein Dackel in der Lage sein, spontan auf das Verhalten seines Gegenübers zu reagieren. Darüber hinaus ist der Dackel ebenfalls ein Allrounder. Durch seine ausgezeichnete Spürnase ist er, ebenso wie der Drahthaar, zur Nachsuche von verletztem Wild bestens geeignet. Das gilt auch für Drück- und Stöberjagden, in denen seine Ausdauer geschätzt wird. Kurzum, der Dackel hat eine ausgeprägte Jagdpassion und ist vielseitig einsetzbar, besonders in Waldrevieren, in denen der hochläufige Drahthaar oftmals ein Problem mit dichten Hecken oder stacheligen Büschen hat.« Mülenberk setzte noch einen drauf: »Außerdem ist der Dackel durch seine kompakte Größe problemlos in einer Wohnung oder im Wohnmobil haltbar und auch schon in kleinen Fahrzeugen transportierfähig. Sogar rucksacktauglich ist er.«
So hatten sie Stunde um Stunde immer wieder die gleichen Argumente ausgetauscht, die sie sich zuerst aus den Rassebeschreibungen gegenseitig vorlasen und dann mehr und mehr in eigenen Worten ausdrückten, soweit der Alkoholpegel es denn zuließ. Dabei hatten sie aber außer Acht gelassen, dass der überreichliche Alkoholkonsum, der anfangs noch harmoniefördernd und entspannend gewirkt hatte, spätestens nach der zweiten Stunde das Gegenteil bewirkte. So wurden aus den bis dato friedlich diskutierenden Jagdfreunden zwei rhetorische Kampfhunde, die gegen Ende des Abends nur noch stur und aggressiv, mehr lallend als sich sauber artikulierend, aufeinander losgingen.
Als die Situation gerade so richtig eskalierte, klingelte es an der Tür von Schober. Mülenberk und Schober schauten sich ebenso entgeistert wie beunruhigt an: Besuch zu dieser späten Stunde verhieß selten etwas Gutes.
Schober öffnete die Tür und ihnen fuhr ein Schreck durch alle Glieder, als der alte Wüller, Schreiner und Bestatter des Dorfes, das Zimmer betrat.
Mülenberk versuchte einen Scherz: »Hier gibts nix zu holen, Wüller. Wir beide sind noch lange nicht an der Reihe.«
»Es geht nicht der Reihe nach, Mülenberk. Das solltest du wissen«, war alles, was der Alte sagte, bevor er unaufgefordert auf einem freien Stuhl Platz nahm, nicht ohne vorsichtig in den großen geflochtenen Weidenkorb zu schauen, den er dann achtsam neben sich abstellte. »Ich hatte noch Licht gesehen und mir schon gedacht, dass ihr beiden noch mit wichtigen Gesprächen zugange seid. Habt ihr noch was zu trinken für mich da? So, wie ihr beiden ausschaut, würde ich es eher nicht vermuten.«
Mülenberk hatte auf der Kirmes mit dem alten Wüller einmal einen langen Thekenabend gestaltet und ihm dabei vom viel zu frühen Tod seiner großen Liebe Esther erzählt. Die Bemerkung von Wüller, es gehe nicht der Reihe nach, hatte ihn deshalb wie einen Faustschlag in die Magengrube getroffen. So musste sich ein waidwunder Schuss, also ein schlechter Schuss in die Eingeweide anfühlen.
Schober brachte aus der Küche eine jungfräuliche Flasche Eifelgeist, die er entkorkte und dem Alten nebst einem Schnapsglas und einigen Bitburger Stubbis hinstellte. »Bedien’ dich, Wüller, du kennst dein Maß am besten.«
Jeder in der Umgebung wusste, dass der Bestatter ein paar Bier und Schnaps brauchte, wenn er zu einer Einsargung gerufen wurde. An den Anblick der Toten hatte er sich nie gewöhnen wollen.
Wenn er die Verstorbenen später in einem Raum, den sonst niemals betrat, reinigte, ganz leicht schminkte, eventuell rasierte und ordentlich kämmte, hatte die Totenstarre oft schon eingesetzt. Es war seine Aufgabe, die schon lange nicht mehr von den Angehörigen übernommen wurde, die Verstorbenen wie Schlafende darzustellen. Er bettete sie so in den Sarg ein, dass es aussah, als schliefen sie. Die Angehörigen hatten so die Gelegenheit, vom Verstorbenen am offenen Sarg Abschied zu nehmen. Ein friedliches Bild ohne Schrecken sollte in ihren Erinnerungen verbleiben können. Niemand hatte ihn in den fast fünfzig Jahren, in denen er diese Arbeit machte – weil sein Vater ihn quasi gezwungen hatte, den Betrieb zu übernehmen –, danach gefragt, wie er sich dabei fühlte, wie sich die erkalteten Körper mit ihren steifen Gliedern anfühlten, welche Gerüche sie aussandten und was sie ihm zu sagen hatten. – Denn er sprach mit ihnen bei seiner Arbeit. Er begegnete einem Toten mit der gleichen Achtung wie einem Lebenden. Das war immer sein Anspruch gewesen. Für Wüller war die Leiche immer noch ein Mensch, der bis vor Kurzem noch geatmet und dessen Herz noch geschlagen hatte. – Auch wenn er dabei jedes Mal seinen Blutalkoholspiegel nach oben katapultiert hatte, was in anderen Berufen zur sofortigen Kündigung geführt hätte. Doch seine Kunden nahmen es nicht mehr so genau und die Inhalte ihrer Gespräche mit ins Grab.
Wüller schenkte sich großzügig einen Schnaps ein, trank ein erstes Stubbi in einem Zug und als er das Ganze in erstaunlich kurzer Zeit wiederholt hatte, fing er endlich an, über den Grund seines Kommens zu reden: »Die Johanna Wilden habe ich gerade in die Kiste packen müssen. Hat ihren Mann nur um sechs Monate überlebt, die gute Frau. War immer freundlich zu den Leuten.«
»Die Frau vom Jakob Wilden?« Schober schien ehrlich betroffen.
Wüller nickte leise, dann schenkte er sich nach.
Mülenberk sah Schober fragend an.
»Jakob Wilden, der alte Jagdaufseher. Niemand weit und breit kannte die Gegend und das Wild so gut wie er«, erklärte Schober und setzte noch ein »Gott hab ihn selig« hinterher.
»Oh das tut mir leid. Natürlich kannte ich den. Der hatte doch einen völlig passionierten Dackel, wenn ich mich richtig erinnere.«
Kaum hörte er das Wort Dackel, blitzten Schobers Augen auf. Mülenberk zuckte nur mit den Schultern.
»Und genau wegen dieses Dackels bin ich hier«, grätschte der Bestatter, scheinbar ohne es zu ahnen, in den schwelenden Streit. »Der Jakob Wilden hat den Dackel gerade mal zwei Jahre gehabt und ihn zu einem ordentlichen Jagdhund ausgebildet, erzählte die Johanna mir beim Einsargen ihres Mannes, während das treue Tier mit herzzerreißendem Gesichtsausdruck jede meiner Bewegungen verfolgte. Der Jakob ist ja friedlich zu Hause in seinem Sessel eingeschlafen, mit dem Dackel im Arm und einem Lächeln im Gesicht. Und die Johanna ist heilfroh gewesen, dass sie wenigstens noch den Dackel hatte und auf ihre alten Tage nicht so alleine war. Nun ist die Johanna aber auch nicht mehr und der Hund braucht ein neues Zuhause. Es gibt in der Familie niemanden, der ihn haben möchte. Also was liegt näher, als dass ein Jagdhund auch wieder in Jägerhände kommt. So hätte es der Jakob sicher gewollt.«
Wie auf Kommando riefen Mülenberk und Schober gleichzeitig: »So machen wir es!« und »Auf gar keinen Fall!«
Ohne sich darum zu scheren, griff Wüller in den Weidenkorb und nahm vorsichtig ein kleines Häufchen Hund in seine großen Hände.