Der Hebräerbrief - Ein heilsgeschichtlicher Kommentar. Roman Nies
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Es gab also für das messianische Judentum, an das der Hebräerbrief gerichtet ist, eine Menge Druck von allen Seiten. Die Aussichten standen, menschlich gesehen, schlecht. In einer zunehmend heidnischen Welt, in der dann auch das nichtjüdische Christentum stark beim Heidentum Anleihen machte, unter anderem auch, um sich bei den Heiden beliebt zu machen, in der das Judentum seit den siebziger Jahren und dann auch noch einmal 65 Jahre später hart bedrängt wurde, war das messianische Judentum gesellschaftlich auf dem absteigenden Ast. Und Gott griff nicht ein. Er hatte Seine Gründe. Das messianische Judentum wurde ähnlich wie das übrige Judentum heilsgeschichtlich zurückgestellt. Seine Wirkung in der Welt sollte in späteren Tagen voll zur Ausreifung kommen. Eine jahrhundertelange Konkurrenz mit der heidenchristlichen, sehr schnell anti-jüdisch werdenden Kirche des sogenannten Heidenchristentums mutete Gott den messianischen Juden nicht zu. Ihre nichtmessianischen Brüder mussten hingegen der Missgunst und der Willkür des Kirchenchristentums ausgesetzt werden.
Der Kirchenvater Origenes, der gegen Ende des dritten Jahrhunderts als kirchliche Geistesgröße galt, hielt Lukas oder den ersten bekannten Ältesten der Gemeinde in Rom, Clemens Romanus, für den Autor des Briefes. Das zeigt, dass man damals schon nicht mehr wusste, wer den Hebräerbrief geschrieben hatte. Inhaltlich steht der Brief in großer Übereinstimmung mit der Lehre von Paulus.
Paulus war der Apostel der Nationen. Warum sollte Paulus an die „Hebräer“ geschrieben haben? Er hatte vielleicht sogar noch mehr Gründe als jeder andere Apostel. Im Jahre 60 hätten die Gemeinden vielleicht tatsächlich von Petrus oder Jakobus oder einem der anderen Apostel und Evangelisten einen umfangreichen Lehrbrief über das Verhältnis von Altem Bund zu Neuem Bund und die Bedeutung von Jeschua Maschiach erwartet, aber nicht unbedingt von Paulus. Doch andererseits hatte Paulus all die Gründe, die auch die anderen Apostel hatten,
- den messianischen Juden zu zeigen, welche umfassende und überragende Bedeutung Jesus Christus hatte, Er war nicht nur der Messias! -
und zusätzlich noch einen guten eigenen Grund:
- Die messianischen Juden, die ihn beschuldigten, die Torah zu missbilligen und mit der jüdischen Tradition zu brechen, über seine Sichtweise aufzuklären und sie dadurch zu rechtfertigen.
Erstaunlicherweise werden von den meisten Auslegern andere Gründe genannt als diesen, der sich aber aus dem Brief herauslesen lässt. Die Gründe, die für die Abfassung des Hebräerbriefes angegeben werden, sind überwiegend so abwegig, dass es sich nicht lohnt, darauf einzugehen.
Der Hebräerbrief ist auf mehreren der ältesten Handschiften mit Pro Hebraiois tituliert. *54 Tatsächlich beschäftigt er sich auch mit hebräischen Themen. Er könnte von Paulus auf Hebräisch für Juden geschrieben und von Lukas ins Griechische übertragen worden sein, denn das ist die Lehre von Paulus, während das Griechisch nicht mit dem Stil der anderen Paulusbriefe übereinstimmt.
Paulus hätte ausreichend Gründe gehabt, an das Judentum, insbesondere das messianische Judentum, einen Lehrbrief zu schreiben. Die orthodoxen Juden waren lehrmäßig schnell mit ihm fertig, denn Paulus behauptete nicht nur, dass Jesus von Nazareth der Messias sei, sondern auch noch, dass die Torah nur Mittel zum Zweck sei, auf Jesus hinzuführen. Und vielleicht das Schlimmste: Er hob die Nationen auf die Stufe Israels. Das war für orthodoxe Juden alles so abwegig – das kann man wissen, weil es das orthodoxe Judentum mit seinen Stellungnahmen ja noch heute gibt -, *55 dass es mit Paulus nicht zu spitzfindigen oder feinsinnigen Auseinandersetzungen kam. Anders sah die Konfrontation mit den messianischen Juden aus, die keineswegs bereit waren, Paulus in allem zu folgen. Die messianischen Juden meinten, sie müssten die Nichtjuden erst zum Judentum überführen, wenn diese für das Heil reif gemacht werden wollten. Diese messianischen Juden waren in den Gemeinden von Paulus aufgetaucht und versuchten, die „Versäumnisse“ von Paulus auszumerzen, zum Ärgernis und Zorn von Paulus.
Der Hebräerbrief ist so aufgebaut, dass er als Entgegnung gegen die Kritiken an der neuen Lehre des Evangeliums über Jesus Christus verstanden werden kann. Es ist ein Lehrbrief für lernwillige Juden. Vielleicht sollte der Brief die Behauptung der Gegner Pauli entkräften, dass er gegen die jüdische Überlieferung predigte, obwohl er das natürlich, jedenfalls zum Teil, tat. Das bedeutete nicht, dass Paulus nicht vielleicht sogar der einzige war, der zu seiner Zeit wusste, wie das Alte Testament im Verhältnis zum Evangelium Jesu Christi zu verstehen war. In diesem Licht scheint der Brief geeignet zu sein, dieses Verhältnis zu erklären und die Verständnislücken bei den Kritikern zu schließen.
Ein Ausleger schreibt: „Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine heidenchristliche Gemeinde. Der Verfasser warnt nämlich in 3,12 ganz allgemein vor einem Abfall vom Glauben und nicht vor einem Rückfall ins Judentum.“ *56 Der Ausleger unterstellt also, dass eine Warnung an eine messianisch-jüdische Gemeinde eine Warnung vor einem Rückfall ins Judentum beinhalten müsste. Das ist natürlich nicht zwingend, insbesondere ist dann eine solche Warnung nicht notwendig, wenn der Briefschreiber weiß, dass die Gemeinde ihre jüdischen Wurzeln nicht aufgegeben hat. Und genau das gilt für messianisch-jüdische Gemeinden, über die man vielleicht, wenn nicht sogar sehr wahrscheinlich, grundsätzlich sagen kann, dass sie eher im historischen Judentum des Glaubens an den Gott JHWH stehen als die nichtmessianischen Juden.
Außerdem scheint der Ausleger anzunehmen, dass eine messianisch-jüdische Gemeinde nicht vor einem Abfall vom rechten Glauben gewarnt sein könnte, sondern nur eine heidnisch-christliche Gemeinde. Eine logische Erklärung dafür gibt er nicht. Man sieht, dass er kein Argument für seine These hat und diese offenbar nur einer Vormeinung Rechnung trägt. *57
Vor solchen Auslegungen kann man nur warnen, weil sie nicht erkennen lassen, dass sie das Wort Gottes ernst nehmen. Das zeigt sich dann oft auch in der Maximierung des Widerspruchs zu dem, was die Bibel sagt. Der gleiche Autor sagt, für die seit Urzeiten dem Hebräerbrief zugeeignete Empfängerschaft gelte: „'An die Hebräer' hilft nicht weiter.“ Er sagt also, das, was die Bibel sagt, hilft nicht weiter, wenn man die Bibel verstehen will. Das ist natürlich Unsinn. *58
Richtig ist jedenfalls, dass der Hebräerbrief nicht nur für Hebräer, sondern auch für andere Menschen, die sich für Jesus Christus irgendwie interessieren, von Bedeutung ist. Insofern muss der Verfasser nicht allein an die „Hebräer“ gedacht haben. Es ist aber inhaltlich klar, dass die Thematik alle Juden angehen muss und daher jeder, der den Brief liest als solcher „Hebräer“ erkannt und dementsprechend auch benannt werden kann.
Man muss das, was die Bibel sagt, ernst nehmen, aus dem einfachen Grund, weil man sonst nicht wissen kann, was sie, bzw. ihre Verfasser, sagen wollen. Sie sagt, dass dieser Brief an die Hebräer geschrieben ist. Wer waren die Hebräer im ersten Jahrhundert, also der Abfassungszeit des Briefes? Es waren alle Juden und Angehörige des Zwölf-Stämme-Volks Israel in und außerhalb des Landes Israel. Der Brief war also auch an die Juden und die sich als Angehörige Israels verstehen den in der Diaspora gerichtet. Leider scheinen das viele Kirchenvertreter und Bibelausleger nicht wahrhaben zu können. In dem Wahn, die christliche Kirche sei das „neue Israel“, unterstellen sie dem Briefeschreiber tatsächlich, dass er mit „Hebräer“ lediglich „Christen“, mithin auch Nichtjuden gemeint haben soll. Sie seien also die neuen Hebräer des Neuen Bundes. Dem steht aber nicht nur Jer 31,31 entgegen, sondern auch allzu deutlich Röm 9-11. Vielen Bibelauslegern ist es nicht verborgen geblieben, dass in Röm 9-11 unter „Israel“ das jüdische Volk zu verstehen sein musste, weil es hier in der