Ich darf nichts sagen.. Johanna E. Cosack
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Irgendwann schlurfte er in die Küche und wanderte mit einem Becher Kaffee in der Hand weiter ins Wohnzimmer. Der Anblick des demolierten Musikinstrumentes tat ihm weh, ein Sinnbild für die seit Langem zerstörte Harmonie. Tröstend, fast zärtlich strichen seine Finger über die Klaviatur und den zertrümmerten Deckel. Mit Tränen in den Augen versuchte er, einzelne kleine Bruchstücke aus dem Resonanzboden vorsichtig zu entfernen. Er wagte es nicht, eine einzige Taste der Klaviatur zu betätigen, um ihm keine weiteren Schmerzen zuzufügen, denn er wusste, dass dies nur erneut Missklänge ausgelöst hätte. Diese Qual musste ein Ende finden.
Es ergab doch alles keinen Sinn mehr!
Resigniert rief Michael einen Freund an, der ein kleines Klavierbau-Unternehmen leitete; er vereinbarte die sofortige Abholung des Flügels.
Glücklicherweise kam der mit seinen Helfern schon eine Stunde später und versprach, den Flügel nach der Reparatur bis zu seinem Anruf aufzubewahren. Als Michael zusah, wie die Männer mit starken Händen das große Instrument aus der Wohnung schleppten, empfand er eine fast unerträgliche Zerrissenheit, so intensiv, als trügen sie damit einen Teil seines Körpers hinaus. Die Leere des Zimmers erdrückte ihn. Mutlos ließ er sich auf den zurückgelassenen Klavierhocker fallen.
Lange saß er dort, das Gesicht in den Händen vergraben. Heute Abend würde dieser muskelbepackte Kerl wieder anwesend sein und ihn mit schwachsinnigen Entschuldigungen überhäufen. Wie konnte er in einer Umgebung, die nur Dissonanzen in ihm auslöste, an seiner Symphonie weiterarbeiten? Zu Beginn ihrer Ehe war er überzeugt, dass Nina zur Vernunft kommen und ihren Bruder loslassen würde. Warum hing sie nur so sehr an ihm? Und welche Rolle spielte er selbst überhaupt noch in ihrem Leben? Viele Jahre hatte er auf ein Baby gehofft und sich darauf gefreut, seinem Sohn oder einer Tochter das Klavierspielen beizubringen. Er war zuversichtlich, dass ein eigenes Kind Nina helfen würde, sich von ihrem Bruder zu lösen. Aber dieser Traum trat immer mehr in den Hintergrund, begraben unter endlosen Diskussionen, die meistens mit Streit und Tränen endeten.
Nach den Missverständnissen folgten Abende der Versöhnung und erneuter Hoffnung. Er war müde davon geworden und hatte in seiner Musik Zuflucht gefunden. Nina hatte sich immer tiefer in ihre Arbeit gestürzt. Diese Ehe zu dritt dauerte doch schon zu lange und Rom bot eine einmalige – die vielleicht letzte – Chance, etwas zu ändern, bevor alles zu spät war. Das Leben, ihre Zeit miteinander, plätscherte vorbei wie Wasser in einem Kanal. Aber der Fluss seines Lebens sollte sich doch auch durch neue Gebiete graben. Sich bei Misserfolgen verästeln und wieder zu einem stärkeren Strom zusammenfinden, um in vielen Jahren im Meer der Unendlichkeit zu münden. Aber ein Neuanfang ohne Nina? Kaum vorstellbar. Niemals? Er liebte ihre Gradlinigkeit, ihre selbstlose Zuneigung, ihre verzweifelte Liebe. Er liebte das Gefühl, sie zu spüren, zu umarmen und zu halten. Im Grunde liebte er alles an ihr, bis – ja, bis auf ihren Bruder.
Am späten Nachmittag fasste Michael einen Entschluss und griff zu seinem Handy. Er teilte dem Direktor der Frankfurter Musikschule telefonisch mit, dass er vermutlich bis zum Ende des Semesters beziehungsweise seiner Kündigung keine Termine mehr wahrnehmen könne. Nein, er sei nicht krank, beruhigte er den überraschten Leiter. Er müsse sich jedoch länger als geplant auf den Umzug und die neue Anforderung in der Musikakademie vorbereiten. Michael versprach, in den Semesterferien nochmals zur Musikschule zu kommen, um die restlichen Unterlagen und seine persönlichen Gegenstände von dort abzuholen.
Dann lief er ins Schlafzimmer und packte zwei große Koffer mit seiner Lieblingskleidung. Als er seine Notenblätter in eine Mappe sortierte, hielt Michael inne. Er nahm ein leeres Blatt und fing an zu schreiben. Den Brief legte er auf den vereinsamten Klavierhocker, ergriff die beiden Koffer und seinen Autoschlüssel.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blickte er nicht zurück.
Nina war tränenüberströmt aus ihrer Wohnung geflüchtet, auf der Treppe hatten ihre Beine beinahe versagt. Ihr rasendes Herz umklammerte eine entsetzliche Angst vor der ungewissen Zukunft, die durch diese Katastrophe und Michis Entschluss ihren Lauf zu nehmen schien. Die mühsam errichtete Hängebrücke über die Schlucht der Erinnerungen drohte endgültig zu reißen. Jahrelang war Nina darüber gerannt, um beiden Seiten gerecht zu werden. Jetzt hing sie zwischen den geliebten Menschen, doch vermochte sie keinen der Stricke loszulassen, denn sie wollte – nein … sie durfte niemand verlieren. Unten in der Schlucht lagen die Erlebnisse ihrer Kindheit tief vergraben.
Vor ihrem Lieblingscafé im Öderweg hielt sie an und kaufte zwei Croissants und einen großen Milchkaffee. Trotz der frühen Uhrzeit schienen die Menschen, die aus den U-Bahn-Schächten strömten, schon alle in Eile zu sein, denn die Uhren in dieser Stadt tickten schnell. Eine Tatsache, die Nina seit der Kindheit verinnerlicht hatte.
Nach der Schule war sie meistens nach Hause gerannt, um Max vom Kindergarten abzuholen und ihm ein Mittagessen zu kochen. Am liebsten aß er Pudding – warmen, cremigen Schokopudding. Manchmal mischte sie Spinat unter den Pudding, da sie gehört hatte, dass Kinder Spinat essen müssten.
Es war ihr Fluchtinstinkt oder mehr ein verzweifelter Versuch, der Realität davonzulaufen, der Nina veranlasste, an den Main zu fahren. Sie parkte den Porsche am Straßenrand und stieg aus. Jetzt im März war der Wind noch kühl und ein leichter Regen prickelte auf ihrem Gesicht. Unzählige Menschen joggten auf dem breiten Uferweg entlang oder fuhren mit dem Fahrrad zu ihrer Arbeitsstelle. Auf einer Parkbank fütterte ein älterer Herr ein paar Schwäne, die stürzten sich gierig auf das trockene Brot. Der Anblick der Tiere erinnerte Nina sofort wieder an Michi, als der ihr bei einem Spaziergang am Main erklärte, dass Schwanenpaare ein ganzes Leben zusammenblieben. Genauso wie wir, hatte er damals verliebt hinzugefügt.
Jetzt drohte Michi allein in den Süden zu ziehen. Blind vor Tränen warf Nina den Rest der Croissants zu den Schwänen und eilte zurück zu ihrem Wagen.
Zwanzig Minuten später hastete sie die beiden Stockwerke in dem alten Fabrikgebäude hoch, in dem die Marketingagentur schon seit ihrer Gründung untergebracht war. Im Empfangsflur begegnete sie Pierre, der mit einer CD in der Hand offenbar in die benachbarte IT-Abteilung unterwegs war.
»Hey, Nina! Guten Morgen, Liebes, bist du heute aus dem Bett …« Dann stockte er. »Ist irgendwas passiert? Meine Güte, du siehst ja schrecklich aus. Hast du etwa geweint?«
»Ach, Pierre, guten Morgen! Nein, alles okay.« Nina schüttelte energisch den Kopf und wischte mit dem Ärmel ihres Pullovers über ihr Gesicht. »Nein, das muss wohl der dumme Regen sein. Ähm, Pierre, deine Müller-Präsentation ist so gut wie fertig. Ich lege sie gleich in dein Postfach.«
Pierre zupfte an seiner Krawatte und blickte stirnrunzelnd auf sie herab. »Das ist super … kannst du mir die Sachen auch noch mal ausdrucken? Der Termin morgen wird wichtig und daher möchte ich ein paar Kommentare hinzufügen, die für mich persönlich sind.« Er griff nach ihrem Arm.
»Nina, ist wirklich alles okay?«
»Aber klar … was soll denn schon sein?« Nina zitterte vor Anstrengung am ganzen Körper. Die Erinnerung an den gestrigen Abend trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Sie drängte schnell an ihm vorbei, spürte aber, dass Pierres Blick sie verfolgte, als sie auf ihren Schreibtisch zusteuerte.
Ninas Arbeitsplatz lag im ›Garten‹, einem Teil des Raumes, der aufgrund seiner zahlreichen Grünpflanzen diese Bezeichnung bekommen hatte.
Immer wieder versuchte sie sich auf das Moodboard vor ihr auf dem Bildschirm zu konzentrieren, aber ihre Gedanken kehrten sofort zu Michi zurück. Wie konnte er sie nur vor eine solche Entscheidung stellen? Warum tat er das? Wollte er wirklich ihr gemeinsames Zuhause verlassen, ihre kleine Familie? Hatten sie sich in der Gemeinschaft nicht alle wohlgefühlt, wie