Melodie des Herbstes. Anna Maria Luft
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Melodie des Herbstes - Anna Maria Luft страница 8
„Sie haben doch sicher Arbeitslosengeld erhalten.“
„Ja, habe ich. Und dann hat man mir eine Stelle vermittelt. Ich musste Kisten auf einen Lastwagen laden. Meine Rückenschmerzen nahmen wieder zu. Ich war doch schon einmal an der Wirbelsäule operiert worden und…“ Er seufzt tief. „Ich bin zusammengebrochen.“
„Das ist bitter“, sage ich, „aber Sie hätten die Arbeit verweigern können, weil sie für Sie körperlich unzumutbar war. Da gibt es einen Paragraphen.“
Ich will seine Geschichte noch weiter hören, obwohl ich sie nicht völlig glauben kann. Etwas stimmt da nicht. „Warum haben Sie keine Rente beantragt?“, frage ich. „Habe ich doch. Man hat sie mir nicht bewilligt. Ich sei noch arbeitsfähig, hat man mir gesagt. Ich habe dann eine Arbeit in einem Büro angenommen. Sie war stinklangweilig. So bin ich öfter eingeschlafen. Man hat mich entlassen.“
„An der Entlassung waren Sie selber schuld.“
„Kann sein. Inzwischen sind mir meine Frau und mein Sohn davongelaufen. Ich habe nicht einmal eine Adresse und nie mehr etwas von ihnen gehört. - Eine dritte Stelle habe ich auch noch besetzt: Ich musste im Winter auf einem riesigen Gelände Schnee schippen, was ein Unding war. Täglich war ich zum Umfallen müde.“
Ich schüttle den Kopf. „Aber so viel Schnee gab es letzten Winter doch bei uns nicht. Außerdem - warum nehmen Sie eine solche Stelle an, wenn Sie schon einen körperlichen Schaden haben und damit überfordert sind?“
Der Mann wird leicht ärgerlich. „Sie glauben nicht, was ich Ihnen erzähle? Es war ein großes Gelände, auf dem gebrauchte Autos ausgestellt werden sollten.“
Ich atme erst tief ein und aus. Dann sage ich: „Ich bezweifle nicht, dass Sie diese Arbeit verrichtet haben, aber Sie hätten sie verweigern können.“
„Ich bekam eine schwere Lungenentzündung und musste ins Krankenhaus. Nach meiner Heilung war ich nur noch ein Wrack. Sie sehen ja selbst, wie ich heruntergekommen bin.“
Ich lache. „Sie müssten sich nur etwas besser kleiden, dann würden Sie gar nicht so schlecht aussehen. Außerdem riechen Sie nach Zigaretten- oder Zigarrenrauch. Sie werden Ihr Geld verrauchen.“
„Stimmt nicht. Ich habe in einer Suppenküche gegessen. Da wurde so viel geraucht, dass es in meine Kleidung gezogen ist.“
„In einer Suppenküche wird niemals das Rauchen erlaubt.“
„Es stimmt aber. Jetzt gehe ich jeden zweiten Tag zur Tafel und bekomme billige Lebensmittel. Aber meine Miete ist in die Höhe gegangen, weil das Haus renoviert wurde. Die Arbeitslosenhilfe, die ich bekomme, reicht nicht weit. Ich habe die Wohnung verlassen müssen. Ich bin jetzt Hartz 4“
„Sie werden doch einen Weg finden, ein bisschen Geld dazu zu verdienen? Es werden überall Leute gesucht. Außerdem erhalten Sie doch auch Leistungen der Grundsicherung, sie bekommen Arbeitslosengeld II. Ist das so wenig? Wie ist es mit Wohngeld? Außerdem könnten Sie einen Mini-Job annehmen, der Sie körperlich nicht zu sehr belastet?“
„Suchen Sie mir einen! Keiner will mich haben.“
Ich seufze! Dann fallt mir ein zu sagen: „In diesem Outfit würde ich Sie auch nicht einstellen. Oder haben Sie sich extra so zum Betteln angezogen?“
Der Mann schüttelt den Kopf. „Jetzt werden Sie unverschämt. Bitte, gehen Sie weiter.“
„Entschuldigung! Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Ich möchte Ihnen etwas geben, wie auch immer Ihre Geschichte verlaufen ist. Alles kann ich nicht glauben, was Sie mir erzählt haben, aber dass Ihre finanzielle Lage sehr schlecht ist, kann ich mir denken.“
Ich hole meine Geldbörse aus der Handtasche, nehme einen Zwanzigeuroschein heraus und überreiche ihn dem Hilfsbedürftigen.
„Danke“, sagt er, nachdem er das Geld an sich genommen hat und verbeugt sich vor mir.
Ich gehe weiter und denke nach: Habe ich einem armen Menschen mit meinen 20 Euro wirklich geholfen? Ich glaube schon, auch wenn die Geschichte des Mannes etwas unwahrscheinlich geklungen hat. Ich höre ein paar Vorübergehende sagen: „Es ist Dummheit, einem Bettler etwas zu geben. Er wird sich für dieses Geld nur alkoholische Getränke oder Zigaretten kaufen.
Ich denke mir: Wenn er wirklich arm ist, wird er sich dafür Lebensmittel besorgen und wenn nicht, ist er selber schuld.
Jetzt fühle ich mich nicht mehr in der unbeschwerten Stimmung, mir ein Kleid zu kaufen und fahre nach Hause.
Bei meiner Rückkehr sehe ich zu meiner großen Überraschung vor meiner Wohnungstür ein Päckchen liegen. Der Absender ist Edgar. Als ich es später öffne, finde ich drei Goethe-Bände darin vor. In einem der Bücher stehen Gedichte, im anderen Die Leiden des jungen Werther und im dritten Band Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ich finde, dass Edgar viel zu viel Geld für mich ausgegeben hat. Dennoch freue ich mich über dieses großherzige Geschenk, vor allem rechne ich es ihm hoch an, meinen Geburtstag nicht vergessen zu haben. In meiner Hochstimmung springe ich in die Höhe, spüre aber sofort meinen Rücken wieder, der mir ab und zu Schmerzen bereitet.
Edgar hat eine hübsche Geburtstagskarte beigelegt, worin er mir neben seinen Glückwünschen mitteilt, dass er am Nachmittag nach Wien gefahren ist, um Lörchen, die verunglückt sei, im Krankenhaus aufzusuchen.
Ich erschrecke darüber, denn ich liebe dieses Kind, als wäre es mein eigenes.
Während ich ein Glas Wein trinke und dabei doch wieder Chips nasche, verfalle ich in Nachdenklichkeit. Dietlinde hat mir kürzlich nicht nur die Schuld an der Scheidung vorgeworfen, sondern auch, dass ich sie nicht geliebt hätte, weil mir mein Beruf wichtiger gewesen sei. Ich bin eine leitende Angestellte in einem Münchner Bekleidungshaus gewesen, eine Direktrice. Erst hatte ich nach dem Besuch der Handelsschule in einem Bamberger Steuerbüro gearbeitet. Dieser Beruf hatte mir nicht zugesagt. Ich war nach München umgezogen, hatte meinen Beruf gewechselt und war erst Schneiderin, später Schneidermeisterin geworden und hatte mich bis zur Direktrice empor gearbeitet. Ich war damals schon verheiratet und hatte wegen meiner vollen Berufstätigkeit mein Kind und den Haushalt vernachlässigt. Mein Mann war zu dieser Zeit tagelang als Generalvertreter für medizinische Geräte unterwegs gewesen. Von ihm hatte ich keine Hilfe erwarten können. Was hätte ich tun sollen? Meinen Beruf wollte ich nicht aufgeben und halbtags arbeiten hatte mir die Firma nicht erlaubt. Wegen Dietlinde wollte ich nicht daheim bleibleiben. Heute bin ich traurig darüber, es nicht getan zu haben. Kürzlich hat meine Tochter zu mir gesagt, dass sie sich damals sehr allein gefühlt habe. Wie oft habe ich sie schon um Verzeihung gebeten, aber meine Reue kommt bei ihr nicht an.
Gloria kommt am nächsten Tag gegen drei Uhr zu mir. Sie wünscht sich einen Rotbuschtee. Zufällig habe ich noch einen daheim. Ich habe in der Konditorei einige Obstschnitten und mehrere Stückchen Bienenstich besorgt.
Das Mädchen erzählt, dass sie auf die Realschule in Starnberg gehe. Sie wolle demnächst aufs Gymnasium überwechseln. Sie sagt: „Ich möchte eines Tages in die Politik gehen. Mit großem Interesse lese ich die Zeitung.“
„Du solltest dich mit Edgar treffen. Er hätte Freude an einer Diskussion über Politik. Ich mag das nicht.“
Ich äußere, dass es in der Politik nicht immer mit rechten Dingen zugehe. „Außerdem regen mich diese ewigen Streitereien der Politiker auf. Mir reichen schon die Nachrichten. Ich sehe