Melodie des Herbstes. Anna Maria Luft

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Melodie des Herbstes - Anna Maria Luft

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Obwohl sie sehr pflegeleicht sind, und ich sie nur zweimal pro Woche gieße, zeigen sie meistens ihre ganze Pracht. Während die Pflanze in voller Blüte steht, sind schon wieder neue Knospen zu erkennen.

      Heute habe ich Geburtstag, was wohl keinen auf der Welt interessiert, nicht einmal Edgar. Oder bin ich zu voreilig? Der Tag hat ja erst begonnen.

      Mein Frühstückstisch ist reichlich gedeckt. Zuerst trinke ich ein Gläschen Sekt und spüre gleich die Wirkung des Alkohols. Ich fühle mich leicht beschwingt, gerade richtig an so einem Tag. Ich gönne mir heute eine Fahrt nach München. Warum sollte ich mir nicht selbst eine Freude bereiten? Ich wohne in einem kleinen Ort nahe Starnberg und kann die S-Bahn benutzen, wenn ich nach München fahren will, manchmal auch die Bundesbahn, aber sie hält nicht immer in Starnberg. Ich gestatte mir öfter das Vergnügen, die bayerische Metropole aufzusuchen, um dort bummeln oder einkaufen zu gehen. Vielleicht suche ich mir heute ein Sommerkleid aus, bin ich am Überlegen. Womöglich gehe ich auch ins Kino. Heute zu meinem Geburtstag möchte ich unbedingt einen Spaßtag haben.

      Jetzt werde ich erst einmal in aller Ruhe zu Ende frühstücken.

      Ich bin 73 Jahre alt geworden. Ich frage mich so oft, wo die vielen Jahre hingegangen sind. Was ist überhaupt Zeit, überlege ich. Es ist ja nicht nur das Fortschreiten der Gegenwart. Es ist auch die Abfolge der Ereignisse, die einem im Leben begegnen. Kaum ist die Gegenwart da, ist sie auch schon wieder vorbei. Jede Minute dauert nur eine Minute, jeder Tag nur einen Tag. Ich höre Edgar sagen: Die Zeit ist relativ. Und, was er noch sagt: Die Wahrnehmung der Zeitdauer hängt davon ah, was in dieser Zeit passiert.

      Das kann ich gut nachempfunden. In manchen Jahresabschnitten habe ich die Zeit so empfunden, als wäre sie wie im Flug vergangen, ein anderes Mal habe ich geglaubt, sie bleibt stehen.

      In diesem Moment denke ich daran, was in meinem Leben alles Aufregendes passiert ist, und manches, was längst der Vergangenheit angehört, ist in meinem Kopf noch so gegenwärtig, so fest verankert, als wäre es soeben geschehen. Es fällt mir nicht schwer, die schönen Erlebnisse für immer festzuhalten, wie die Geburt meiner Tochter und die erste Weihnacht mit ihr und mit meinem Mann. Damals sind wir als Ehepaar noch ein Herz und eine Seele gewesen. Manche traurigen und unangenehmen Begebenheiten möchte ich allerdings aus meinem Gedächtnis verbannen. So leicht ist das jedoch nicht. Ich kann den Tag und sogar die Stunde nicht vergessen, an dem mich Friedhelm, mein damaliger Mann, verlassen hat. Ich habe bitterlich geweint und mich verzweifelt auf die Couch geworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits in die rassige junge Italienerin Maria Bernadette verliebt. Meine Hoffnung, ich könnte ihn noch zum Bleiben bewegen, hatte sich nicht erfüllt. Er war fest entschlossen gewesen, mich zu verlassen. Einige Zeit war mir noch die Hoffnung geblieben, er käme reumütig zurück, doch welch ein Trugschluss. Schon einige Monate später hatten wir das Haus verkauft, damit jeder seinen Anteil erhalten konnte. Eine vierköpfige Familie war an der Immobilie interessiert, aber da sie aus finanziellen Gründen nicht gleich zugreifen wollte, hatten wir ihnen einen Nachlass gewährt.

      Der Verlust unseres Eigenheims war für mich sehr dramatisch gewesen. Lange Zeit wurden mir deshalb öfter Albträume beschert. Ich habe geträumt, dass ich auf der Straße leben muss. Bis jetzt hat sich mein Gedächtnis noch nicht von diesem negativen Erlebnis befreien können.

      Mitten in meine Gedanken hinein läutet jetzt das Telefon. Ich nehme erwartungsvoll den Hörer ab und staune, dass meine Tochter in der Leitung ist. Sie sagt: „Mutti, herzlichen Glückwunsch zu deinem dreiundsiebzigsten Ehrentag.“

      „Oh, danke, Dietlinde, lieb von dir, dass du heute an mich denkst“, sage ich und frage mich in diesem Augenblick, ob das ein Zeichen der Versöhnung sein könnte. Ich warte schon so lange sehnlichst darauf.

      Dietlinde schweigt vorerst. Deshalb wiederhole ich: „Ich finde es sehr nett von dir, dass du…“

      Sie unterbricht mich mit dem vielversprechenden Satz: „Manchmal kommt es anders als man denkt.“

      „Wie meinst du das, Dietlindchen?“, frage ich. „Bitte, könntest du dich genauer ausdrücken? Komm mich besuchen, dann können wir darüber reden und über vieles andere. Ich würde mich riesig darüber freuen.“

      „Nein, ich komme nicht“, sagt sie so energisch, dass ich zusammenzucke.

      „Dann danke für deine guten Wünsche“, wiederhole ich mich. „Es hat mich sehr gefreut, dass du…“ Ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie auflegt. Darüber bin ich enttäuscht. Ich wollte noch ein Weilchen mit ihr reden, sie fragen, wie es ihr geht. So rufe ich rasch zurück, aber sie nimmt den Hörer nicht ab. Ich versuche es eine halbe Stunde später wieder, bekomme aber erneut keine Verbindung. Rasch räume ich das Frühstücksgeschirr weg und mache mich für die Fahrt nach München fertig.

      Als ich vor meine Wohnungstür trete, steht mir zu meiner großen Überraschung Gloria mit einem Blumenstrauß gegenüber. Ihr hübsches Geschenk nehme ich staunend und dankend entgegen. „Woher weißt du, dass ich Geburtstag habe? Vielleicht von Edgar?“, frage ich. Sie sagt: „Nein, von ihm nicht. Ich möchte aber nicht verraten, wer mir den Tipp gegeben hat.“

      „Darf ich dich für morgen Nachmittag zum Kaffee einladen? Heute fahre ich nach München.“

      „Gerne! Nachmittags habe ich morgen etwas Zeit.“

      „Schön! Du könntest gegen 15 Uhr kommen.“

      „Oh, danke! Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen in München“, sagt sie lächelnd. Wahrscheinlich ist sie glücklich darüber, mir eine Freude bereitet zu haben. Manchmal kommt die Freude, die man anderen schenkt, wieder ins eigene Herz zurück. Ich selbst habe das schon oft erlebt.

      Ich gehe in meine Wohnung zurück, stelle die Blumen in meine bauchige Glasvase, die ich mit Wasser fülle. Dann rieche ich an den verführerisch duftenden gelben Rosen. Ich frage mich, wie Gloria darauf kommt, mir diese wunderschönen Blumen zu schenken. Ich sehe es als Bestätigung dafür, dass sie mich mag, und so freue ich mich darüber, dass ein so aufgeschlossenes junges Mädchen mich betagten Menschen sympathisch findet. Ich stelle immer wieder fest, dass mir die Anerkennung der jungen Generation sehr viel bedeutet.

      Ein paar Momente setze ich mich in den Sessel, weil mir so viele Gedanken durch den Kopf schießen. Dabei wird mir bewusst, dass heute bereits zwei wunderbare Ereignisse geschehen sind, die ich vorher nie vermutet hätte: Die Gratulation meiner Tochter und die Glorias.

      Jetzt will ich mich beeilen, zur S-Bahn-Station zu kommen.

      Als ich in München beim Eingang des Kaufhauses Karstadt vorbeikomme, das noch vor einiger Zeit das Kaufhaus Herde gewesen ist, sitzt ein Mann auf dem Boden, - ich schätze ihn auf etwa fünfzig. Er hebt die Hand, um mich zum Stehenbleiben zu bewegen. Seine Kleidung ist schäbig, die Jacke an den Ärmeln schon sehr abgewetzt. Das Hemd - man kann nicht erkennen, ob es weiß oder grau ist - ist halb geöffnet. Ungepflegt wuchert der Bart in seinem faltigen Gesicht. Neben seinen zerbeulten Schuhen liegt ein Rucksack. Mir scheint, dass auch das Hand wägeichen daneben ihm gehört.

      „Bitte, Madame, bleiben Sie einen Moment stehen“, ruft er mir zu. „Ich muss Ihnen unbedingt etwas sagen.“ Ich wundere mich über die Anrede Madame und trete näher. „Ja, was möchten Sie mir sagen?“

      „Ich bin ohne meine Schuld verarmt. Weil ich lange krank war, hat man mich aus der Firma geworfen.“

      Ich sage: „Aber das geht doch nicht so leicht. Wenn man krank ist, kann man nicht.

      „Ich habe keine Lust gehabt, das Sozialgericht einzuschalten, denn ich dachte nicht daran, wieder

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