Wanderfieber. Christian Zimmermann

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Wanderfieber - Christian Zimmermann

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Richtung Zentrum. Michael besuchte mit seinem Fahrrad auch schon Russland und so kann ich mir noch ein paar nützliche Tipps abholen. Bei der Fussgängerbrücke verabschieden wir uns, ihn zieht es kurbelnd flussabwärts und mich spazierend zum vereinbarten Meeting. Um 10: 15 Uhr treffe ich den Journalisten Simon, wie abgemacht, bei der Postbrücke. Über sieben Ecken hatte die Redaktion Wind von meinem Unterfangen gekriegt und darum wollte sie unbedingt einen Artikel in ihrem Lokalblatt veröffentlichen. Wir setzen uns für eine Stunde an die Donau. Simon ist passionierter Ultramarathonläufer und er meint, dass er darum der perfekte Fragesteller sei. Er stellt tatsächlich nicht nur die üblichen Fragen und es ergibt sich ein spannendes Gespräch. Anschliessend dürfen sich Mrs. Molly und ich am Ufer der Donau in Pose werfen, damit am nächsten Montag der Artikel wunderbar bebildert erscheinen kann.

      Ausgangs Tuttlingens statte ich dem Supermarkt einen Besuch ab. Ganz praktisch, denke ich lächelnd, denn für meine Shoppingtour muss ich nicht einmal eine Euromünze hervorkramen, damit ich temporär einen Einkaufswagen mieten kann. Ich habe ja die famose Molly dabei. Und so fahren wir in den Laden ein. Vielen neugierigen Blicken müssen wir standhalten und mehrere Personen sprechen mich während des Einkaufs sogar an. Ansonsten verläuft unser Supermarktbesuch entspannt und problemlos.

       Christian hätte mich rechtzeitig auf diesen überraschenden Supermarktbesuch vorbereiten sollen. In Australien war ich nämlich dazu bestimmt, genau in einem solchen Laden meine Arbeit aufzunehmen. Ich freute mich unglaublich, mit anderen vierrädrigen Kollegen als fleissiger «shopping trolley» durch die Regale zu flitzen. Aber wie ihr wisst, ist alles ein bisschen anders herausgekommen. Ich will mich ja nicht beklagen, aber nun stehe ich ziemlich unverhofft in diesem Einkaufstempel. Die Wehmut verfliegt aber schnell. Wie mir scheint, werde ich von allen Seiten bestaunt. Mein Chef muss einigen Menschen sogar Auskunft über mich und unsere gemeinsame Reise geben. Verwundert, ja schon fast schockiert, nehme ich zur Kenntnis, dass die hiesigen Einkaufswagen ausnahmslos aus Plastik sind. Ja wirklich – aus billigem Plastik! Ich bin halt noch «alte Schule», bin aus stabilem Metall und robustem Stahl gebaut. Natürlich habe ich im Moment mit Übergewicht zu kämpfen, aber mit diesen leichtgewichtigen und pseudotrendigen Hungermodellen nehme ich es allemal auf!

      Der Fahrradweg führt vielfach an oder in der Nähe der Donau entlang. Ab und zu leitet mich die Route durch sehenswerte Orte. Im Städtchen Fridingen mache ich einen Umweg durch das historische Zentrum. Einige bewundernswerte Fachwerkhäuser, wie das «Gasthaus Scharfeck», säumen die Gassen. Die Fassade des 1554 erbauten Hauses zeigt Bemalungen zur Fridinger Geschichte. Die stattliche Kirche und das pompöse Rathaus runden das Ensemble ab.

      Nun wird die Wanderung richtig interessant. Ich befinde mich im tollen Naturpark Obere Donau. Der Fluss hat sich über Jahrtausende ein tiefes Bett durch das Juragestein der Schwäbischen Alb gegraben. In langen Schlaufen rauscht die Donau durch das enger werdende Tal, das von steilen Kalksteinfelsen umrahmt wird.

      7 km hinter Fridingen lokalisiere ich im Wald einen attraktiven Platz zum Übernachten. Eine Feuerstelle, Bänke und Tische werden den Tagesausflüglern zur Verfügung gestellt. Auch eine offene Schutzhütte steht zwischen den Bäumen.

       Besuch vom Patenonkel aus Moskau

       Tag 8: Sonntag, 12. Mai 2019, 30 km (219 km)

      Der Tag fängt grau und kalt an, zumindest trocken ist es. Die Wollmütze muss wieder ihren Dienst übernehmen. Ich koche mir eine Extraportion Kaffee und lasse es ruhig angehen. Ich beobachte zwei Schwäne, die sich entspannt flussabwärts treiben lassen. Kaum bin ich unterwegs, klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung spricht Matthias, mein Patenonkel oder «Götti», wie wir bei uns in der Schweiz sagen. Er wohnt nicht weit von der deutschen Grenze entfernt. «Wo bist du gerade und soll ich dir einen spontanen Besuch abstatten?» Da habe ich selbstverständlich nichts dagegen und ich erkläre ihm, dass ich in etwa anderthalb Stunden in Beuron beim Kloster eintreffen werde. Ich bin dann schon nach einer Stunde dort und rufe Matthias an. Er sei auch schon in Fridingen, es könne sich nur um Minuten handeln. Ich warte und warte und es stellt sich heraus, dass es in dieser Region mehrere Fridingen und Beuron gibt. Eine Stunde später klappt es aber doch noch. Lachend treffen wir uns oberhalb der Erzabtei. «Weisst du, dass ich über Moskau zu dir gefahren bin?» Fragend schaue ich Matthias an. Im Kanton Schaffhausen gäbe es tatsächlich eine Ortschaft namens Moskau. Schmunzelnd überlege ich mir, dass ich es mir mit meinem Fussmarsch nach Moskau viel einfacher hätte machen können …

      Hinter Beuron thront auf der rechten Flussseite die Trutzburg Wildenstein. Im Jahr 1077 zum ersten Mal erwähnt, erlebte die Burg aber erst im 15. und 16. Jahrhundert ihre Glanzzeit. Neuerdings wird in ihren alten Gemäuern eine Jugendherberge betrieben. Nur wenige Kilometer flussabwärts steht das Schloss Werenwag auf den höchsten Kalksteinzinnen. An den äussersten Abgrund geklebt, muss der Ausblick über das Donautal beeindruckend sein. Auf den Anhöhen am Oberlauf der Donau stehen eine Reihe historischer Bauten, wie zum Beispiel die Ruine des Schloss Hausen oder die mittelalterlichen Falkensteiner Burgen.

      Um die Mittagszeit gönne ich mir in einem Restaurant eine Grillwurst mit Pommes. Meinen Einkaufswagen will ich in Sichtweite behalten, darum lasse ich mich draussen auf der Sonnenterrasse nieder.

      Der Weg schlängelt sich im Gleichklang mit der Donau Kurve um Kurve stromabwärts. Heute besteht fast die komplette Strecke aus einem Kiesbelag, was natürlich den Rollwiderstand merklich erhöht und das Tempo drosselt. Von hinten nähert sich ein Fahrradfahrer, der neben mir anhält. Dieser steckt in modernen Funktionskleidern, alles perfekt abgestimmt und teuer. Der sportliche Mann macht auf mich den typischen Eindruck eines gestressten Managers. Er konnte sich ausnahmsweise eine komplette Woche von der Arbeit loseisen und nun radle er schnell zu seiner Tochter nach Wien. Auch in den Ferien permanent unter Strom, denke ich. Er guckt nur komisch auf meine Sandalen, dann in mein Gesicht und sagt mit ernster Miene: «Mit Sandalen nach Moskau, das ist aber keine gute Idee.» Ich bin ziemlich sprachlos und frage verdutzt zurück: «Wieso meinst du?» Nun guckt er mich ein wenig verdattert an und stottert: «Ich weiss nicht …» Nach einer peinlichen Gesprächspause schwingt er sich resolut auf sein funkelndes Designerrad, klickt seine Profischuhe in die Pedale und ist zurück auf seiner Mission.

      Ich muss viele kurze und ruppige Aufstiege bewältigen. Zwei Kilometer nach Dietfurt habe ich für heute genug. Bei einem Picknickplatz direkt an der Donau stelle ich das Camp auf. Mir ist bewusst, dass ich mich in einem Naturschutzgebiet aufhalte und hoffe, dass ich keinen Ärger bekomme. Etwas später tauchen zwei Personen auf. Der ältere begutachtet interessiert mein Gefährt und wir kommen ins Gespräch. Er wolle mit seinem leicht behinderten Sohn nur die Feuerstelle begutachten, weil er nächste Woche mit ein paar guten Freunden hier eine Freiluftparty schmeissen möchte. Wir quatschen einige Zeit. Reinhard lebt mit Sohn David und seiner Ehefrau im 20 km entfernten Dörfchen Blochingen. Ich erzähle ihm, dass ich morgen in Sigmaringen auf dem Campingplatz einen Ruhetag einlegen möchte. Er rümpft nur die Nase und lädt mich spontan zu sich nach Hause ein. Das sei nur ein Umweg von 500 Metern, was ich wohl verkraften könne. Und ob ich kann! Bevor sich die zwei auf den Nachhauseweg machen, meint Reinhard zu mir: «Falls der Ranger auftaucht und Ärger macht, richte ihm schöne Grüsse von mir aus. Ich kenne ihn sehr gut und das sollte reichen, damit du keinen Unannehmlichkeiten bekommst.»

       Zu Gast bei Reinhard

       Tag 9: Montag, 13. Mai 2019, 20 km (239 km)

      Es hat aufgeklart und der Deckel von Mrs. Molly ist mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. Ameisen könnten auf dieser Eisbahn ohne weiteres ihre Kurven drehen. Zum Frühstück bin ich warm eingepackt. Der wolkenlose Himmel kündigt zumindest einen sonnigen Tag an. Nach dem Start muss ich nicht wenige Höhenmeter fressen. Auf der Anhöhe passiere ich das Stift Inzigkofen. Von 1354 bis 1856 füllten Nonnen des Augustinerordens die Gemäuer mit Leben. Ich bin früh dran und deswegen ist ein Besuch nicht möglich. Kurz darauf laufe ich im sehenswerten Städtchen

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