Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.. Sarah Markowski
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Warum tue ich mir das an?
Helena schluckt. Sie mag Abenteuer, doch dieses ist nicht ganz nach ihrem Geschmack.
Das weißt du nicht?, die Worte des Fremden hallen in ihrem Kopf wider, und wider.
„Nein, das weiß ich nicht!“
Trotzdem bewegt sie sich wie fremdgesteuert. Als wüsste sie, dass das alles nur ein Spiel ist, dass alles gut wird, dass das hier nur ein Filmdreh ist, für den neuen Blockbuster, dessen Debüt schon überall angekündigt wird.
Nur ohne Kamerateam. Und ohne Regisseur. Und ohne alles.
Helena seufzt. Gleichzeitig läuft sie die Treppenstufen hinauf, eine nach der anderen.
Ich sollte umkehren, der Gedanke lässt sie nicht in Ruhe, doch ihre Füße laufen wie von selbst. Helena hat keine Angst mehr, obwohl sie die in diesem Moment vermutlich haben sollte. Ihr Kopf schreit stopp, doch alles geschieht wie von selbst.
Vielleicht ist es die Freiheit.
Der Gedanke schießt ihr durch den Kopf, als sie am Rande des Gebäudes steht und durch den Rahmen schaut, der vor einiger Zeit sicher mal als Fassung für ein bodentiefes Fenster gedient hat.
Vielleicht bin ich einfach so froh, draußen zu sein. Ich bin nicht mehr eingesperrt, nicht mehr komplett auf von außen kommende Hilfe angewiesen. Ich bin draußen, in der Natur. Komme, was wolle, es ist alles besser, als ein Leben lang in dieser ultraweißen Zelle verbringen zu müssen.
Helena schaut sich um. Überall liegen Rohre, Bauwerkzeug und Holzplatten. Sie entdeckt eine Leiter am Ende des Raumes, doch die Sprossen wackeln schon beim bloßen Anschauen. Sofort denkt Helena wieder an Mia:
… höher traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Ihre Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde.
Helena läuft mit schweren Schritten zurück zum Fenster. Was vorhin wie von selbst ging, fühlt sich nun an, als hätte sie Eisenketten an den Füßen, die ihr jeden Schritt zusätzlich erschweren. Ihr ist schwindelig; vielleicht ist es die Höhe – womit sie normalerweise keine Probleme hat – oder vielleicht ist es die Aufregung. Vielleicht auch die Kombination aus beidem. Helena tastet sich am übriggebliebenen Mauerwerk entlang, stützt sich aber nicht zu stark ab, da ihr die Tragfähigkeit nicht mehr so stabil vorkommt, wie sie vor einigen Jahren sicher einmal gewesen war oder hätte werden sollen. Sie stellt die Bierflasche auf den Boden, kniet sich hin, und legt den Rest des Weges im Vierfüßlerstand zurück. Ihr Herz pocht in der doppelten Frequenz des gesunden Minutenmaßes und ihr läuft der Schweiß an Stirn und Schläfen hinunter, als sie sich endlich wieder aufrichtet und sicher auf dem Boden sitzt. Ihre Füße baumeln im Freien und klopfen abwechselnd gegen das hohle Mauerwerk. Helena fragt sich, wozu sie das Skript überhaupt auswendig gelernt hat, wenn es im Endeffekt doch nicht überprüft wird.
Vielleicht sollte ich froh sein, denkt sie. Doch ärgerlich ist es trotzdem. So viel Aufregung um nichts.
Helena fragt sich, ob Mia wohl Höhenangst hatte. Zu einem Entschluss kommt sie nicht mehr, da sie eine Stimme aus der Tiefe aus den Gedanken reißt.
„Mia? Mia, bist du da?“
„Ja?“, ruft sie halb fragend zurück, da sie sich nicht vorstellen kann, dass man sie in dem grellen Flutlicht von unten nicht sehen kann. Doch wahrscheinlich gehört das auch zum Skript, denn Mia wird schließlich von einem alten Bekannten entdeckt und angesprochen, während sie hier oben sitzt.
„Du musst noch ein Stockwerk höher!“
„Muss ich das?“
Ein Räuspern. Sie weiß, dass das die falsche Antwort war.
Halte dich ans Skript, Änderungen sind nicht vorgesehen.
Helena schluckt den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie schwitzt vor lauter Angst an Stellen, an denen sie noch nie zuvor geschwitzt hat. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und stützt sich am rauen Betonboden ab.
Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers.
Helena möchte nicht noch ein Stockwerk höher klettern, sie weiß was dann kommt. Sie kennt das Skript, sie kennt es in- und auswendig. Sie möchte schreien, alles hinausschreien: die Angst, die Ungewissheit, die Erniedrigung, die Verzweiflung, den Schmerz. Doch ihr Hals ist wie zugeschnürt. Alles, was sie von sich geben kann, ist ein stumpfer, erstickter Laut.
Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot.
Sonntag, 30.06.2019, 22: 12 Uhr
- Helena -
„Ich bin nicht Mia!“, schreit Helena so laut sie kann in die Dunkelheit. Endlich hat sie ihre Stimme wiedergefunden.
„Ich bin Helena Marx, vierundzwanzig Jahre alt und gerade fertig mit meiner Ausbildung. Ich mag Hunde, habe aber Angst vor ihnen, weil ich als Kind mal von einem ins Gesicht gebissen wurde. Siehst du die Narbe unter meinem Auge? Hm, siehst du die Narbe?“
Helena redet sich richtig in Rage. „Vielleicht ist das eine Verwechslung, vielleicht ein dummer Streich, vielleicht aber auch nur eine völlig bescheuerte Idee eines genauso psychisch bescheuerten Hirnkranken! Ich bin nicht Mia!“
Sie stampft so heftig mit dem Fuß auf, dass ein Stück des Betonbodens abbröckelt. Helenas Herz setzt vor Schreck ein paar Schläge aus. Sie steht wie zur Salzsäule erstarrt am Rande des Gemäuers. Es ist totenstill. Alles, was sie hört, sind die kleinen Steinchen, die an der Hausfassade hinunter rieseln. Es knirscht, Helena bewegt sich nicht. Ein weiteres Stück Beton bricht ab. Ihr Fuß verliert den Halt, sie strauchelt, rudert mit den Armen und fällt. Helena spürt den Wind, die Luft, die an ihr vorbeirauscht, im freien Fall. Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit, bis zuerst ihre Beine und dann der Kopf auf etwas Hartes stoßen. In ihr herrscht eine angenehme Leere, ein wohliges Gefühl von Wärme.
So muss sich der Tod anfühlen.
Sonntag, 30.06.2019, 22: 14 Uhr
- Helena -
Es ist dunkel. Diesen Bereich des Geländes erreicht der Baustellenstrahler nicht. Zu viel wildes Gebüsch und Geäst schirmen das Licht ab.
„Mia?“
Sie hört eine Stimme, weit weg. Plötzlich wird es hell. Das grelle Licht einer Taschenlampe leuchtet ihr in die Augen und sie hält ihren Arm schützend über das Gesicht.
„Mia, steh‘ auf!“