Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.. Sarah Markowski

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Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski Nils Johansen und Arne Lassen

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einem passenden Spruch gekontert, doch die mysteriöse Post war ihr in diesem Moment deutlich wichtiger als ein unnötiger Streit mit Julius.

      „Gib schon her“, fordert sie, während sie ihm das Kuvert bereits aus der Hand reißt. Helena dreht und wendet es, doch bis auf den Namen Mia in unleserlicher Handschrift findet sich dort kein Anhaltspunkt, der auf Absender, Empfänger oder Anlass des Schreibens deuten könnte.

      Warum gehe ich eigentlich davon aus, dass es ein Brief ist?, fragt sie sich selbst, denn Nachrichten wurden bisher immer für jedermann sichtbar an die Wand projiziert. Der Beamer hängt noch immer an seinem gewohnten Platz, dessen versichert sie sich mit einem schnellen Blick an die Zimmerdecke. Außerdem hat der Umschlag ein gewisses Gewicht. Er ist nicht schwer, aber nur ein einfaches Schreiben ist dort sicher nicht enthalten.

      „Machst du es auch irgendwann auf, oder sollen wir noch ein bisschen rätseln, was die Botschaft von diesem Ding sein könnte?“

      Am liebsten hätte Helena Julius dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst, doch dazu hätte er aus diesem Raum gelangen müssen, und gäbe es hier irgendwo einen frei zugänglichen Ausgang, wäre sie schon längst über alle Berge und würde gar nicht erst in dieser Situation stecken. Kurz gesagt: Julius muss leider bleiben.

      „Du gehst mir auf die Nerven.“

      „Ich meine-“

      Sie wirft ihm einen scharfen Blick zu. Er verstummt.

      „Ich mache es ja schon auf.“

      Helena nestelt umständlich mit den Fingern an der Lasche herum. Vielleicht möchte sie Julius provozieren, vielleicht möchte sie aber auch nur noch ein bisschen Zeit schinden, denn mittlerweile ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich wissen will, was sich in dem Umschlag für Mia verbirgt.

      Samstag, 29.06.2019, 11: 27 Uhr

      - Oliver -

      „Was ist?“

      Oliver beugt sich über Helenas Schulter, doch er kann nichts erkennen. Die Sicht ist durch ihre langen, dunkelblonden Haare versperrt, und die Schrift auf dem Papier ohnehin zu klein. „Was hast du?“

      Sie reagiert nicht.

      „Helena?“

      Wieder reagiert sie nicht auf seine Frage. Sie blättert um, liest, blättert zurück und schüttelt ungläubig den Kopf. Oliver platzt bald vor Neugier. Am liebsten würde er ihr die Blätter aus der Hand reißen und sich selbst einen Überblick verschaffen, doch er kann sich gerade noch beherrschen. Verlockend ist es trotzdem.

      „Helena…“, drängelt er, doch sie zeigt keine Reaktion. „Bist du taub oder ignorierst du mich einfach?“

       Unfair.

      In dem Moment reicht sie ihm wortlos die erste Seite, das Deckblatt. Sein Herz pocht bis zum Hals.

      Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe

      statt dem eigenen zu denken.

      - A. Schopenhauer

      Samstag, 29.06.2019, 11: 30 Uhr

      - Helena -

      Helenas Augen fliegen über das Blatt Papier, das sie in ihren Händen hält. Sie blättert um und verschlingt die nächsten Zeilen, hat Angst, etwas verpasst zu haben und blättert deshalb noch einmal zurück. Wieder liest sie die erste Seite, dann die Zweite; immer hin und her, bis sie schließlich am Ende angelangt. Sie legt alle acht Seiten fein säuberlich aufeinander und wäre am liebsten alles noch einmal von vorne durchgegangen, doch das wird sie in den nächsten Stunden sowieso tun müssen – wenn sie es richtig verstanden hat.

      „Helena…“, drängt Oliver von hinten. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft liegt. Auch die anderen warten gespannt darauf, was sie zu erzählen hat. Helena holt tief Luft. Sie rutscht an die Kante der Matratze und richtet sich auf, streckt ihren Rücken und räuspert sich.

      „Es ist ein Manuskript.“

      Ihre Stimme klingt rau und kratzig, sie muss husten. Es dauert einen kurzen Moment, bis sich der Hustenanfall wieder gelegt hat und sie einen klaren Gedanken fassen kann. Niemand sagt etwas, niemand stellt eine Frage, doch die Fragezeichen zeichnen sich über jedem anwesenden Kopf klar ab. Helena hätte es gerne erklärt, doch sie weiß selbst nicht mehr als das, was nun aus ihrem Mund kommt.

      „Es ist eine Geschichte… eine Art Monolog… oder ein Dialog mit sich selbst… ein innerer Dialog. Gibt es das überhaupt?“

      Der Anfang ist holprig, doch dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie beginnt zu erzählen: „Es geht um ein Mädchen, Mia.“

      Irgendjemand atmet hörbar ein und hält schließlich den Atem an.

      „Mia ist vierundzwanzig Jahre alt, so alt wie ich.“

      Es herrscht Stille im Raum. Helena fährt fort: „Sie kommt gerade von einer Geburtstagsparty, hat ein bisschen über den Durst getrunken, ist aber noch bei relativ klarem Verstand. Es ist kurz nach Mitternacht und die Feier noch in vollem Gange, aber Mia hat keine Lust mehr, weil sie gerade ihre beste Freundin dabei erwischt hat, wie sie den Jungen geküsst hat, den Mia absolut vergöttert.“

      „Autsch.“

      „Mia läuft ein bisschen durch die Gegend, um einen klaren Kopf zu bekommen. Eigentlich möchte sie noch nicht nach Hause gehen, aber zurück zur Party ist für sie auch keine Option. Deshalb steigt sie kurzerhand über die frisch gestutzte, nur noch kniehohe Hecke, tritt dabei ein paar Blümchen kaputt, und durchquert die Einfahrt, bis sie schließlich auf der ruhigen, kaum befahrenen Straße im familienfreundlichen Wohngebiet steht. Mia läuft immer weiter, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Abstände zwischen den Straßenlaternen werden allmählich größer, der Lichtschein immer fahler. Mia spielt gerade mit dem Gedanken, wieder umzukehren, als sie plötzlich vor einem alten, mittlerweile verlassenen Fabrikgebäude steht, das sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Dort haben sie und ihre Geschwister mit den Nachbarskindern immer Räuber und Gendarm gespielt. Die verwilderte Grünfläche, unbenutzte Container und reihenweise Autowracks eigneten sich wunderbar für Fang- und Versteckspiele. Mia klettert durch das Loch im Zaun, das sie ebenfalls noch von früher kennt, und erkundet das stillgelegte Gelände. Auf der Hinterseite entdeckt sie eine Treppe, die in den ersten Stock des Rohbaus führt – Fenster, Türen, alles ist längst durch Natur oder Menschenhand zerstört worden. Sie klettert ein Stockwerk höher, doch noch weiter nach oben traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Sie genießt die angenehme Kühle der Abendbrise, die hier oben durch das stehengebliebene Mauerwerk zieht, trinkt den letzten Schluck Radler aus der Flasche, die sie seit einiger Zeit mit sich herumträgt, und schüttelt sich, denn das Getränk ist mittlerweile warm und ungenießbar. Es klirrt, als sie die Flasche neben sich auf dem rauen Betonboden abstellt. Mias Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde. Mia weiß, dass das alte Fabrikgebäude hätte erneuert werden sollen, allerdings war das schon mindestens zehn Jahre her; wenn nicht sogar noch länger. Zeitweise hatten sogar Bauarbeiten stattgefunden, die allerdings immer wieder auf Eis gelegt wurden. Von Beschwerden der Anwohner wegen unzumutbarer Lärmbelästigung über finanzielle

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