Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.. Sarah Markowski
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„Wie das in einem kleinen Örtchen eben so ist“, fügt Manni schmunzelnd hinzu. Helena ist nicht die einzige, die ihn fragend ansieht. „Ich kenne das Fabrikgebäude, vielleicht hätte ich das noch erwähnen sollen; also, zumindest glaube ich das. Die verwilderte Wiese, die Autowracks, die Container, das teilweise abgerissene Gebäude… die Fabrik steht heute noch zwischen Greetsiel und Akkens. Und die Spekulationen über den Grund der andauernden Wechsel zwischen Arbeit und Baustopp kommen mir auch sehr bekannt vor. Hier wird eben viel geredet, wenn der Tag lang ist und wenn interessante Dinge passieren, die jenseits der gewohnten Tagesordnung liegen.“
Manni zwinkert. „Als Reisegruppenbegleiter bekommt man an jeder Ecke den neuesten Klatsch und Tratsch der Einwohner mit.“
„Du bist Stadtführer?“
„Von Greetsiel bis Pilsum.“
Manni nickt stolz. „Ich kenne jeden Winkel, jeden Grashalm und jedes Möwennest hier in der Umgebung.“
Seine Augen leuchten, während er von seiner Arbeit erzählt.
Leidenschaft, denkt Helena traurig, denn im Gegensatz zu ihm führt sie ihren Beruf nur aus, weil der Notendurchschnitt vom Abitur nicht für ein Jurastudium gereicht hat.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht unterbrechen.“
Helena winkt ab. Sie räuspert sich und beginnt dann endlich weiterzuerzählen.
„Mia sitzt also auf dem Mauervorsprung, als von unten plötzlich eine bekannte Stimme ertönt. Sie schaut hinunter und entdeckt die Silhouette eines jungen Mannes. Es ist zwar eine vergleichsweise helle Sommernacht, aber dennoch zu dunkel, um erkennen zu können, wer ihr bis hierhin gefolgt ist. Mia ruft zurück, eine Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Es ist Marius, ein Junge, mit dem sie damals die Grundschule besucht hat. Mia hat ihn ewig nicht mehr gesehen und freut sich auf eine nette Unterhaltung. Sie bittet ihn, nicht wegzulaufen, und sagt, dass sie sofort hinunter käme.“
Helena stockt mitten in der Erzählung. Bisher fiel es ihr unglaublich leicht, den Inhalt des Manuskriptes sehr detailgetreu wiederzugeben, doch nun fehlen ihr plötzlich die Worte. Sie nimmt die vier voller Spannung auf sie gerichteten Augenpaare wahr und schluckt. Niemand fordert sie auf, weiterzusprechen, doch die Neugier steht jedem einzelnen ins Gesicht geschrieben.
Verständlich, denkt Helena, doch irgendetwas hindert sie daran, weiterzusprechen. Sie holt tief Luft, umklammert das Papier mit zittrigen Fingern und gibt sich einen Ruck. Mit nur einem Satz ist der Rest gesagt: „Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers, Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot.“
Samstag, 29.06.2019, 11: 53 Uhr
- Oliver -
Mannis Kinnlade steht offen. Oliver kann sich vorstellen, was in seinem Kopf vorgeht, denn ihm geht es nicht anders. Sein Blick trifft den von Sabrina. Angst, springt ihm entgegen, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegen. Sie ist blass; so blass, dass es nicht einmal mehr die zentimeterdicke Make-Up-Schicht bedecken kann.
„Ich verstehe nicht…“
Es ist Julius, der seine Sprache als erstes wiederfindet. „Ich verstehe nicht, was das alles mit uns zu tun hat.“
Julius scheint trotz sehr erfolgreich abgeschlossenem Abitur nicht gerade der Hellste zu sein. Laut seiner Aussage hat sein Daddy ziemlich viel dafür hingeblättert, dass er die beste Privatschule in der Umgebung besuchen konnte. Oliver konnte sich damals schon seinen Teil dazu denken, denn er kennt die Schule und ihren unumstrittenen Ruf als sichere Abi-Zeugnis-Quelle, wenn man nur einen ausreichend prall gefüllten Geldbeutel besitzt; oder einen Daddy mit genügend grünen Scheinen. Dennoch geht es Oliver im Moment nicht anders als Julius, denn auch er kann sich keinen Reim darauf machen, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Und mit den falschen Namen, die anscheinend irgendeine Bedeutung haben; so viel steht mittlerweile fest.
„War das alles?“
Oliver beugt sich zu Helena hinunter, die mittlerweile mit geschlossenen Augen an der Wand lehnt und nachzudenken scheint. Vielleicht verzweifelt sie auch gerade, beides wäre denkbar. Er wirft einen Blick auf das Manuskript, das aufgeschlagen auf ihren Oberschenkeln liegt.
„Darf ich?“
Helena nickt, ohne die Augen geöffnet zu haben. Obwohl sich irgendetwas in ihm dagegen sträubt, nimmt Oliver den dünnen Stapel Papier in die Hand. Er hat Angst, doch wovor? Unbehagen macht sich in ihm breit, doch die Neugier siegt. Oliver muss einfach selbst einen Blick in dieses Manuskript werfen. Er überfliegt die erste Seite, dann die zweite und die dritte; seine Augen rasen nur so von Zeile zu Zeile. Im Grunde ist es nichts Neues, Helena hat in gekürzter Form bereits alles wiedergegeben. Dennoch löst diese Geschichte etwas in ihm aus. Oliver horcht dem wilden Klopfen seines Herzens. Er hat schon viel gelesen, doch nie war ihm ein Buch so nahe gegangen. Er kann es sich nicht erklären, doch es fühlt sich so an, als hätte er Mia gekannt.
Ich kenne keine Mia.
… oder hätte sie kennen müssen.
Olivers Blick fällt auf die dicken schwarzen Buchstaben am Kopf der Seite: Kapitel 7. Scheinbar handelt es sich um einen Auszug aus einem Text; dem Inhalt nach zu urteilen aus einem Buch oder einem Bericht, doch der Schreibstil lässt eher auf Ersteres schließen. Oliver blättert weiter. Er möchte mehr von Mia und ihrem Schicksal erfahren, doch gleichzeig fürchtet er sich davor. Wieder siegt die Neugier, doch er wird enttäuscht. Mit dem Ende der Seite scheint das Kapitel vorbei zu sein – jedenfalls in diesem Manuskript. Enttäuscht lässt Oliver die Blätter sinken. Was hat er sich erhofft? Plötzlich fällt sein Blick auf ein weiteres Blatt Papier, das unter Helenas Bein hervorschaut.
Steckbrief und Regieanweisung, ist das erste, was ihm ins Auge springt. Vorsichtig zieht er daran; sollte es Helena stören, zeigt sie es nicht. Er streicht das zerknitterte Papier auf seinem Oberschenkel glatt und studiert neugierig den Inhalt.
Mia Geiger,
vierundzwanzig Jahre alt,
Einzelkind,
Lehramtsstudentin,
geboren in München, aufgewachsen in Emden…
Oliver hält den Atem an.
… gestorben in Greetsiel.
Samstag, 29.06.2019, 12: 09 Uhr
- Helena -
„Helena!“
Irgendjemand rüttelt an ihrem Bein. Der Stimme nach zu urteilen ist es Oliver.
„Ja?“
Ihre Augen sind immer noch geschlossen.
„Hast du das gelesen?“
Ohne sie zu öffnen, weiß sie, was er meint.
„Ja.“
„Und, und, …“
Er stottert aufgeregt herum. Helena hält die Augen geschlossen, sie möchte im Moment niemanden sehen, denn dafür ist sie viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und damit, diese