Fabelmacht Bundle. Kathrin Lange
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»Das ist sie also wirklich?«, fragte Luc.
Nicholas hob das Kinn, senkte es wieder. Ein äußerst knappes Nicken.
»Was wirst du jetzt tun?«
Nicholas wandte den Kopf. Sein Freund stand dicht bei ihm und fuhr fort: »Ich meine: Warum sind wir hier? Wir könnten versuchen, einfach von hier zu verschwinden. Dann wäre die Geschichte zu Ende, bevor sie richtig angefangen hat. Warum …«
Bilder flackerten in Nicholas’ Geist auf und ließen Lucs Worte in den Hintergrund treten. Bilder, die sich anfühlten, als wären sie mit einer Nadel auf die Innenseite seines Schädels graviert. Ein schwarzes Notizbuch, nicht das, das sich in seiner Manteltasche befand, aber eines, das genauso aussah. Die Schrift mit dem blauen Leuchten. Der Füllfederhalter, der durch seine Finger rutschte und auf den steinernen Fliesen aufprallte. Seine Beine, die unter ihm nachgaben. Das Kreischen völliger Erschöpfung in seinen Ohren …
»Nicholas?« Lucs Stimme holte ihn zurück auf den Bahnhof.
Er blinzelte, presste Daumen und Ringfinger in die inneren Augenwinkel.
Luc hielt ihn an den Oberarmen gepackt. »Alles okay, Mann? Du warst mindestens eine Minute lang richtig weggetreten.«
Nicholas machte sich los. »Ja. Klar, alles in Ordnung.« Er konnte seinen Blick nicht von Mila lösen, die in der riesigen Bahnhofshalle stand, eingehüllt in das überirdische Leuchten der Sonnenstrahlen.
»Der Kerl da«, sagte Luc. »Er kommt in der Geschichte aber nicht vor, oder?«
Nicholas schüttelte den Kopf, ohne den Typen aus den Augen zu lassen. Er löste sich aus dem Schatten des Obststandes.
Luc ächzte leise. »So viel zum Thema einfach von hier abhauen«, murmelte er.
Nicholas marschierte auf Mila zu und er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als sie den Kopf wandte und ihn ansah. Mit einem Ruck blieb er stehen. Völlig bewegungsunfähig.
Milas Augen weiteten sich.
Eine Hand legte sich auf Nicholas’ Schulter. Luc. In Milas Augen schimmerte erst Schrecken auf, dann tiefe Verwirrung. Ihre Lippen teilten sich.
»Du?«, wisperte sie.
Nicholas krallte sich an Lucs Arm fest.
»Wer ist der Kerl?« Die Stimme des anderen Jungen. »Sieht aus, als würde er gleich an seiner eigenen Zunge ersticken.«
Mila achtete nicht auf ihn. »Nicholas?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.
Nicholas’ Knie begannen zu zittern.
Und dann keuchte er auf, als ein brennender Schmerz sein Handgelenk erfasste. Er riss den Arm hoch. Starrte auf die Stelle direkt über seiner Pulsader. Ein schwaches blaues Leuchten fraß sich von innen an die Oberfläche seiner Haut.
Beim Anblick des Jungen im schwarzen Mantel dachte Mila, sie würde ihren Verstand verlieren. Sie vergaß, dass sie gerade Eric etwas hatte fragen wollen. Vergaß, dass sie eigentlich auf dem Weg zu Isabelle war. Verschwunden waren sämtliche Menschen ringsherum. Verschwunden war auch der Bahnhof, ganz Paris.
Die gesamte Welt.
Es gab nur noch sie und den Jungen im schwarzen Mantel. Groß war er und schlank, genau wie in ihrem Notizbuch. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, verdeckten seine Augen. Trotzdem wusste sie, dass er sie anstarrte. Sein Mantel klaffte auf, enthüllte eine teure Jeans und ein schlichtes, aber ebenfalls teuer aussehendes weißes Hemd.
»Nicholas?« Milas Lippen formten den Namen, aber sie spürte nicht, ob sie ihn laut sagte. Sie hörte nichts. Wie in einem riesigen, kalten Vakuum schwebte sie. Ihr Herz zog sich zu einem winzigen Punkt zusammen, sodass sie nicht mehr atmen konnte.
Sein Blick begegnete ihrem und in diesem Moment entstand etwas Namenloses zwischen ihnen, etwas, das ihr enges Herz weitete, mehr, als es sich jemals zuvor geweitet hatte. Plötzlich fühlte sie sich unendlich leicht und gleichzeitig tonnenschwer, alt und doch jung wie nie zuvor.
Sie sah, wie Nicholas sich krümmte, wie er Halt suchte bei seinem Freund, einem breitschultrigen Kerl mit kurzen Beinen und einem Brustkorb wie ein Gewichtheber.
Der Ansturm der starken Gefühle zwang sie fast in die Knie und gerade, als sie wieder ausatmete, wurde Nicholas von seinem Begleiter in Richtung Ausgang weggezerrt.
Weg von ihr.
Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?, hallten die Worte des alten Mannes aus dem Zug in ihr nach.
Eric neben ihr schien etwas zu fragen, doch sie hörte ihn nur undeutlich, als sei sie plötzlich unter Wasser geraten.
Mit klopfendem Herzen starrte sie Nicholas hinterher.
Draußen vor dem Bahnhofsgebäude zwang Luc Nicholas, stehen zu bleiben. »Alter«, stieß er hervor. »Was war das denn?«
Nicholas umklammerte sein Handgelenk. Dann nahm er die Hand fort, blickte auf die schmerzende Stelle. Blaues Leuchten brannte sich durch seine Haut, feine Linien, die Bögen bildeten und Schleifen. Ein Wort.
Mila.
Er schluckte.
»Ach, du Scheiße!« Luc packte Nicholas’ Hand, drehte sie so, dass er einen besseren Blick auf das Phänomen hatte. »Das ist …«
Nicholas entzog sich ihm. Er wusste, was es war. Er hatte es schon einmal erlebt, dass sich blaue Schriftzeichen durch seine Haut gebrannt hatten. Vor ein paar Jahren war es gewesen und seit damals hatte er inständig gehofft, dass er es nie wieder erdulden musste.
Er knirschte mit den Zähnen, um den Schmerz auszuhalten. »Das Mädchen«, sagte er. »Sie ist Mila …«
Luc ließ die Schrift für einen Augenblick Schrift sein. »Quatsch! Das bildest du dir ein.«
»Du möchtest, dass ich mir das einbilde. In Wirklichkeit weißt du ebenso wie ich, dass sie es ist.«
»Es ist nur eine blöde Geschichte, Nicholas! Etwas, das du als Teenager geschrieben hast, weil du deinem Vater eins auswischen …« Luc verstummte, weil sich hinter ihm die schwere Bahnhofstür öffnete.
Heraus trat Mila.
Und etwas in Nicholas kam zum Stillstand.
Mila war dem Jungen im schwarzen Mantel nachgeeilt, ohne auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken, was sie tat. Als sie die Hand nach dem Griff der schweren Bahnhofstür ausgestreckt hatte, hatte sie danebengefasst, so verwirrt war sie. Und als sie jetzt dem Jungen gegenüberstand, wusste sie weder, was sie sagen, noch, was sie denken oder fühlen sollte.
»Nicholas, nicht wahr?« Die Worte kratzten in ihrer Kehle wie Sandpapier.
Hinter seinen widerspenstigen Haarsträhnen weiteten sich seine Augen. Sie war ihm jetzt nah genug, um zu erkennen,