Fabelmacht Bundle. Kathrin Lange
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange страница 7
Nicholas?
Mila dachte an die Zeilen, die sie auf der Fahrt hierher geschrieben hatte. Nicholas, der sich im Schatten des Eiffelturms vor das kleine Mädchen kniete. Nicholas, der sie in ihrer Fantasie schon seit Jahren begleitete. Ihr Unbehagen wandelte sich in eine Gänsehaut, die ihr bis zum Haaransatz im Genick hochkroch. Ihr gesamter Körper kribbelte plötzlich.
Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt …
Bevor Mila fragen konnte, was genau die Obdachlose gemeint hatte, wandte diese sich ab. Als sie davonging, glaubte Mila, sie Gedichtverse rezitieren zu hören.
»Nichts süsser für ihn dem alles erfüllt ist mit trauer
Und der seit langem in eurem reife gefriert
Ihr bleichen himmel die ihr unsre Länder regiert.«
Sie blieb noch einmal stehen. »Passen Sie auf sich auf«, rief sie Mila über die Schulter zu. »Das Gesindel hat Sie längst im Visier. Und es hat Seelen mit Rabenfittichen.«
Baudelaire«, sagte eine Stimme direkt hinter Mila.
Ihr Herz verstolperte einen Schlag. Erschrocken fuhr sie herum. Hinter ihr stand der Junge von der Bank auf dem Bahnsteig, den sie fast angerempelt hatte. Offenbar war er ihr gefolgt. Er grinste sie ebenso entwaffnend an wie zuvor, aber als habe sich ein zweites Bild über das erste geschoben, kam seine Miene Mila plötzlich irgendwie weniger freundlich vor.
»Nervös?« Sein Blick folgte der Obdachlosen. »Ja, Odette hat diese Wirkung auf die meisten Menschen.«
»Odette.« Mila sah der Alten ebenfalls nach, schaute zu, wie sie mit bedächtigen Schritten in Richtung Ausgang schlurfte. »Was meintest du eben mit Baudelaire?«, fragte sie den Jungen.
Er zuckte mit den Schultern. »Die Alte ist hier am Bahnhof bekannt dafür, dass sie ständig dieses eine Gedicht von Baudelaire rezitiert. Die Rabenfittiche kommen darin auch vor.«
»Baudelaire«, sagte Mila und legte so viel Ungläubigkeit in ihre Stimme, wie sie nur konnte.
Der Junge vergrub die Hände in den hinteren Hosentaschen. Er war schmal, aber ihr fiel auf, dass er einen ziemlich sehnigen Körper hatte. Die Muskeln seiner Oberarme zeichneten sich unter seinem T-Shirt ab, die Unterarme schienen kräftig zu sein. Er wirkte aufsässig, irgendwie kompromisslos herausfordernd.
»Baudelaire, ja.« Er warf einen Blick über ihre Schulter. Seine dunklen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht.
Milas Hände umklammerten das rote Notizbuch. Mit den Fingerspitzen spielte sie an dem Haarband, spürte die dünnen Gummifäden, die daraus hervorstaken. Das, was diese Odette eben gesagt hatte, ging ihr durch den Kopf.
Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt. Und: Nicholas befindet sich schon in Ihrer Nähe.
Wieder erfasste ein Kribbeln Milas Körper.
»Wie heißt du?«, fragte sie den Typen.
Er zog überrascht das Kinn zurück. »Ich? Warum interessiert dich das?«
»Bist du Nicholas?« Sie kam sich albern vor. Diese Obdachlose hatte offensichtlich ihren Verstand nicht mehr ganz beieinander. Doch dann dachte Mila wieder an ihr Notizbuch und die Szenen von Nicholas darin. An seine dunklen Haare, die ihm so leicht in die Augen fielen. An seinen durchtrainierten Körper. Vielleicht war ja sie selbst es, die gerade den Verstand verlor.
»Nicholas?« Der Typ schüttelte den Kopf. Seine Haare gerieten ihm wieder in die Augen und er strich sie weg. »Nie gehört. Wer soll das sein?«
Verwirrt atmete Mila aus. Nicht den Verstand verlieren! Nicholas war eine Figur aus einer Geschichte. Eine Fiktion, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Abgesehen davon hatte der Junge vor ihr milchkaffeebraune Augen und nicht dunkelblaue wie ihr Nicholas. Und auch sein Haar war bei näherer Betrachtung braun und nicht schwarz. Seine Jeans hätte eine Wäsche gut vertragen können.
»Schon gut«, murmelte sie. »War nur so eine Idee.«
Der Typ zögerte, dann zog er eine Hand aus der Tasche und streckte sie ihr hin. »Ich bin Eric.« Seine Hände waren sauberer, als sie vermutet hatte. Seine Fingernägel kurz geschnitten, die Knöchel kräftig und aufgeschürft.
Mila nahm seine Hand und schüttelte sie. »Mila.«
»Komischer Name«, sagte Eric.
»Nur für französische Ohren. Mit vollem Namen heiße ich Émilie Antoinette.«
Warum erzählte sie ihm das? Sie hatte diesen Namen schon immer gehasst. Er passte überhaupt nicht zu ihr, klang viel zu groß für sie. Zu sehr nach langen Röcken, hohen Absätzen und steifen Miedern dafür, dass sie am liebsten Jeans und flache Ballerinas trug.
Diesmal grinste Eric nicht, sondern lächelte schwach. Es ließ seine Züge weicher erscheinen. »Du bist keine Französin«, sagte er ihr auf den Kopf zu.
»Hört man das?«
»Ein bisschen. Aber dein Französisch ist gut. Fehlerfrei.«
»Ich bin Französin«, sagte sie. »Aber ich lebe mit meiner Mutter in Deutschland. Schon seit meiner Geburt.«
Er nickte. »Das erklärt es. Warum bist du hier?«
»Ich bin zu Hause abgehauen.«
Er lachte auf. »Glaube ich nicht!«
Sie verdrängte den Gedanken daran, dass sie mittlerweile vermutlich die zehnte oder zwölfte Nachricht von ihrer Mutter auf dem Handy hatte. Und ihr schlechtes Gewissen deswegen verdrängte sie ebenso. Schließlich hatte sich ihre Mutter das selbst zuzuschreiben.
»Und ich glaube dir nicht, dass du Baudelaire zitieren kannst«, sagte sie zu Eric.
Er nahm die Herausforderung an. Großspurig warf er sich in Positur, spreizte die Beine leicht. Mila musste ein Grinsen unterdrücken. Sosehr Eric sich auch bemühte, cool zu wirken, es schimmerte etwas Verletzliches durch seine Fassade, das sie unerwartet anziehend fand. Er suchte ihren Blick, legte eine Hand an sein Herz und fing an zu deklamieren:
»Herbstende! winter! frühling mit schlammigem eise!
Ihr schläfernden zeiten des jahrs – ich liebe und preise
Was mein gemüt und meine gedanken umgab
Mit dunstigem leintuch und mit verschwommenem grab.
Das ist die erste Strophe.«
Mila starrte ihn an. Sie kannte das Gedicht nicht, aber es hörte sich nicht so an, als ob er bluffte.
Seelen mit Rabenfittichen, flüsterte