Camp 21. Rainer Wekwerth
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»Ihr werdet in ein Erziehungscamp am anderen Ende des Staates geschickt. Dort verbringt ihr die nächsten sechs Monate. Danach entscheidet ein Therapeutenteam, ob ihr in den Alltag zurückkehren könnt. Ich habe dem zugestimmt. Die Papiere sind unterzeichnet. In einer Stunde geht es los. Ich war auch schon zu Hause und habe eure Sachen gepackt. Die Taschen stehen draußen.«
Die Worte kamen beherrscht. Vielleicht war es die Ruhe, mit der sein Vater sprach, die Mike erschütterte. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie wurden fortgeschickt. Sechs Monate lang. In ein Camp?
Damit konnte nur eines dieser Bootcamps gemeint sein, von denen man immer wieder Gerüchte hörte.
Nein, nein, nein, brüllte es in ihm.
Ein rascher Blick zu Ricky zeigte ihm, dass sein Bruder nun offen weinte. Er hätte ihn gern getröstet, aber es ging nicht. Irgendwie konnte er sich nicht bewegen.
Eine Minute verging in Schweigen, dann sagte Mike: »Warum tust du uns das an?«
Sein Vater sah ihn an. Härte lag in seinem Blick. »Du fragst mich das? Ich habe mich auf dich verlassen, dir vertraut, und was machst du? Nimmst mein Auto, rast damit herum. Verantwortungslos gefährdest du dich, deinen Bruder und andere. Ricky nimmt Drogen und du lässt das zu. Und wenn man euch bei euren Ausflügen schnappt, widersetzt ihr euch auch noch der Polizei.«
»So war das nicht, Dad. Wir …«
»Wie war es dann?«
»Wir wollten nur ein wenig Spaß haben.«
»Geht es darum? Immer nur darum? Spaß haben.« Sein Vater trat vor ihn. »Eure Mutter ist tot. Jeder Tag ohne sie kostet Kraft. Das Leben ist kein Spaß, je früher ihr das erkennt, desto besser. Ich dachte, wir kommen klar, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Vielleicht lernt ihr in diesem Camp ja etwas für die Zukunft.«
»Was ist mit der Schule?«, fragte Ricky kläglich. »Wir können nicht einfach fehlen, sonst müssen wir das Schuljahr wiederholen.«
»Ich spreche mit der Rektorin. Uns wird schon etwas einfallen.«
»Mann, Dad, wenn das in der Schule rumgeht, sind wir erledigt«, meinte Mike.
Zehn Sekunden lang sagte sein Vater nichts, dann zischte er: »Übertreib es nicht! Meine Entscheidung steht und jetzt will ich nichts mehr hören. Ihr habt einen Fehler begangen, also lebt mit den Konsequenzen.«
»Ist das jetzt echt wahr?«, hakte Ricky nach. »Du willst uns nicht nur Angst machen?«
»Ja, Ricky, so ist es.«
Ricky schüttelte ungläubig den Kopf.
»Kommst du uns besuchen?«, fragte Mike gepresst. Wut war in ihm aufgestiegen, brannte heiß in seiner Kehle. Am liebsten hätte er seinen Dad angeschrien, aber das würde alles nur noch schlimmer machen.
»Nein, das ist nicht vorgesehen«, sagte sein Vater. »Man hat mir erklärt, es wäre kontraproduktiv, also sehen wir uns erst in sechs Monaten.«
»Dad!«
»Ihr zieht das jetzt durch. Ich will nichts mehr hören.«
Für eine Minute schwiegen alle drei. Dann umarmte sein Dad erst ihn, dann Ricky.
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er, dann ging er.
Kayla saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf ihre Oberschenkel gestützt. Sie ließ den Kopf hängen. Seit über drei Stunden wartete sie nun auf diesem Krankenhausflur, dass jemand kam und ihr sagte, was mit Tom war.
Der Rettungsdienst hatte zwanzig Minuten gebraucht, bis er bei ihr und dem noch immer bewusstlosen Tom eingetroffen war. Ein Notarzt und zwei Sanitäter waren den Flur hinuntergerannt und hatten nach ihr gerufen. Kayla hatte die Tür zur Wohnung aufgerissen und ihnen gezeigt, wo sie waren.
Danach war alles sehr schnell gegangen. Der Arzt hatte Toms Blutdruck und den Puls kontrolliert und alarmierende Werte festgestellt. Rasch wurden über Kanülen zwei Infusionsbeutel an seinen Handrücken gelegt. Man befestigte eine Sauerstoffmaske auf Toms Gesicht, dann wurde er auf die Krankentrage gehoben und zum Rettungswagen gebracht.
Kayla lief neben der Trage her. Sie hielt Toms Hand, flüsterte ihm immer wieder zu, dass alles gut werden würde, aber sie hatte große Angst, dass es zu spät war und er es nicht schaffen würde.
Im Fahrzeug wurde Tom sofort an ein EKG-Gerät angeschlossen, das Atmung, Blutdruck und Herzschlag kontrollierte. Die Elektroden waren noch keine fünf Sekunden an seinem schmalen Brustkorb befestigt, als schon der erste schrille Warnton ausgelöst wurde.
Der Arzt, ein junger Afroamerikaner, dem bei diesem Wetter der Schweiß in Strömen über die Stirn lief, gab Tom daraufhin eine Spritze mit einem Wirkstoff, den er Kayla nannte, den sie aber noch nie gehört hatte.
Obwohl alles rasch ging, kam es Kayla dennoch so vor, als wate sie durch zähen Nebel. Die Zeit schien irgendwie langsamer als normal zu verlaufen, das Atmen fiel ihr schwer und ihr ganzes Sichtfeld hatte sich eingegrenzt. Sie nahm auf einer harten Bank Platz und legte den Sicherheitsgurt an, dann ging es in rasender Fahrt und mit apokalyptischem Sirenengeheul ins Krankenhaus.
Der Wagen hielt direkt vor dem Eingang der Notaufnahme. Die Sanitäter luden Tom aus und brachten ihn fort, ohne dass sie Kayla sagten, was jetzt mit ihm geschehen würde.
Kayla war wie betäubt zum Empfang der Notaufnahme gestolpert. Eine Frau mittleren Alters mit stark blondierten Haaren drückte ihr ein Klemmbrett und einen Stift in die Hand und forderte sie auf, den Patientenbogen für Tom auszufüllen.
Viel war es nicht, was Kayla eintragen konnte. Im Textfeld für Toms Anschrift trug sie die Adresse der Wohnung ein, in der sie ihn gefunden hatte, obwohl sie sich nicht vorstellen wollte, dass man in so einem Loch leben konnte. Es wurde noch nach dem Namen der Krankenversicherung und Personen gefragt, die im Notfall verständigt werden sollten. Hier schrieb sie den Namen seiner Mutter hin, aber sie kannte die aktuelle Telefonnummer oder ihre Anschrift nicht.
Irgendwann kam die blonde Frau wieder und nahm ihr den Fragebogen ab, dann führte sie Kayla in einen langen Flur, deutete auf eine Reihe Plastikstühle und sagte ihr, sie solle hier warten. Sobald es Neuigkeiten zu Toms Gesundheitszustand gäbe, würde jemand kommen und sie informieren.
Das war vor drei Stunden gewesen.
Während sie wartete und immer wieder leise vor sich hin weinte, vibrierte ihr Handy in der Tasche. Sie zog es heraus und ahnte schon, wer da versuchte, sie zu erreichen.
Drei Anrufe in Abwesenheit und eine Textnachricht. Von ihrer Mutter.
Wo bist du? Die Schule hat angerufen, du hast den Unterricht ohne Erlaubnis verlassen. Dad ist losgefahren und sucht dich. Ich mache mir Sorgen. Melde dich sofort!!!
Irgendwie schaffte es ihre Mutter mit den wenigen Worten dieser Nachricht, zugleich ängstlich und wütend zu wirken. So als könne sie sich nicht für ein Gefühl