Roter Mond. Miranda Gray
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Eva spürte, wie dieses Licht sie brausend erfasste, und überall um sie herum aus der Luft wirbelnde Blätter spann. In diesem Licht sah sie die ersten Siedlungen aus dem Staub erstehen, aufblühen und gedeihen und das Universum sich in den ersten Kunstformen spiegeln. Das Licht flackerte, und sie sah die Ordnung der Gesellschaft, den Webstuhl und das Gewebe der Gesetze, Lehren, Beurteilungen und Künste. Die Stadt pulsierte vor Begeisterung, in ihr loderte die Energie der Göttin. Eva spürte, wie die Gegenwart dieser Energie weiß und rein aus dem Dunkel in ihrem Innern aufstieg. Vertrauensvoll ließ sie ihre Zweifel und Ängste fahren und öffnete sich voll und ganz dieser Macht. Einen Augenblick lang fühlte sie sich aufgehoben in der Schwebe der Zeit, und dann kehrte die Welt zurück in einem Bombardement scharf umrissener Einzelheiten und leuchtender Farben. Jede Gestalt, jeder Stoff, jeder Ton und jede Form sandte Wellen von Ideen, Verbindungen und Mustern aus, die lawinengleich ihr Bewusstsein durchrauschten, bis sie in einer Kaskade von Dichtung und Weissagung ihren Lippen entströmten. So plötzlich, wie sie dahergekommen war, endete die Lawine, und Eva fühlte sich bis auf den Grund leer und erschöpft, das Feuer in ihr war erloschen, doch im Inneren spürte sie Frieden, vor ihr der noch bebende Speer, der sich in die Erde gebohrt hatte.
Nach einer kurzen Erholungspause stand Eva langsam auf. Doch als sie nach dem Speer greifen wollte, wurden sowohl sie wie auch Athenes Waffe von machtvollen Armen gepackt und samt und sonders hinten in einen dahinrasenden, weidengeflochtenen Streitwagen verfrachtet. Rötlich glänzendes hüftlanges Haar wehte vom Haupt der Wagenlenkerin, die die beiden Pferde zu noch rascherer Gangart antrieb. Angstvoll und entzückt zugleich bestaunte Eva die Geschicklichkeit und Stärke dieser Frau, die da groß und stolz im dahinstürmenden Wagen stand und mühelos ihr Gleichgewicht hielt. Sie trug eine aus vielen Farben gewebte Tunika und einen wild flatternden Schulterumhang, den eine große Spange zusammenhielt. Um ihren Hals trug sie einen riesigen Torques aus gedrehten Goldfäden, der im Sonnenlicht glänzte. Ihre Haut war bronzefarben, und in ihren Augen sprühte ein Feuer. Ihre Hände, die die Zügel mit wohl bemessener Stärke hielten, waren rau und wettergegerbt. Unter den Hufen der Pferde blitzte die Landschaft auf; den einen Augenblick flogen sie über braune Ebenen dahin, den nächsten durcheilten sie das gesprenkelte Grün eines Eichenwaldes. Die Geschwindigkeit zerrte an Evas Haar, aus ihrer Kehle löste sich ein Schrei der Begeisterung. Sie fühlte sich stärker als jemals zuvor, ihr Verstand war scharf und hell, und die Kraft, die sie durchströmte, gab ihr das Gefühl, alles erreichen zu können. Sie war frei, unabhängig, eine Löwin mit der Kraft zu kämpfen und zu beschützen.
Gerade als Eva glaubte, vor Erregung platzen zu müssen, verlangsamte die Frau die Fahrt und ließ die Pferde in sanftem Gang durch den Schatten eines Waldes trotten. Es umgab sie eine Atmosphäre kühler, grüner Stille, aber die Erregung und Begeisterung sang noch immer in Evas Blut. Lachend hob die Frau sie aus dem Wagen und setzte sie im Gras ab.
»Ich heiße Boadicea, ich bin die Königin der Iceni«, sagte sie mit tiefer und kraftvoller Stimme. »Ich kämpfe, um zu beschützen und zu dienen, nie um zu zerstören. Ich bin der wahre Sieg, die Gebieterin des Friedens. Ich setze mich für andere und deren Anliegen ein und erhalte dieses Engagement aufrecht.«
Die Königin stieg von ihrem Wagen und schritt auf eines ihrer Pferde zu. Sie überprüfte das Zaumzeug und sagte: »In keltischen Zeiten wurde die Frau respektiert. Sie hatte ihr eigenes Land und ihre eigene Macht und wurde für ihre Urteilskraft und das, was sie in die Gemeinschaft einbringen konnte, geachtet. Es waren die Frauen, die ihre Krieger in Aktion treten ließen, und es waren auch die Frauen, die den Frieden aushandelten. Sie waren die Macht hinter ihrem Stamm und ihren Männern.« Liebevoll tätschelte sie den Hals des Pferdes.
»Du erfährst nun die Stärke des Frauseins, die ausstrahlende Dynamik der lichten Phasen, aber später wirst du den Verlust dieser Energie erfahren, wenn sie in Dunkelheit verwandelt wird. Blick nicht zurück, und sehne dich nicht nach dem Licht, denn sonst verpasst du die Geschenke der Dunkelheit. Schau in die Dunkelheit hinein, akzeptiere ihre Kräfte, und sieh das Licht, das aus ihr erwächst.«
Die Königin wandte sich um und sprang mit der Anmut eines Rehs auf ihren Wagen. Sie hob die Arme zu einem Lebewohl, ließ die Zügel gegen die Rücken der Pferde klatschen und hieß sie sich in Bewegung setzen. Der Wagen zischte in einem Aufblitzen des Sonnenlichts über den Wald dahin, bis er zu einem Lichtpunkt in der Ferne wurde. Eva winkte stürmisch, sah wie die kleine silhouettenhafte Gestalt der Königin sich umwandte und noch einmal winkte, bevor sie verschwand und das Tageslicht mit sich nahm. Eva blieb zurück, die Arme noch erhoben, ein Ruf auf ihren Lippen. Langsam ließ sie die Arme sinken und eine leichte Traurigkeit überkam sie; sie hatte Boadicea sehr gemocht.
Wieder einmal stand Eva im mondbeschienenen Wald, und neben ihr stand ruhig die Herrin des Mondes. Gemeinsam gingen die beiden nun schweigend weiter durch den Wald, bis sich in Eva die Energie der Fahrt mit Boadicea in ein intensives Gefühl der ruhigen Zuversicht, des Selbstvertrauens und der Harmonie verwandelt hatte.
Die Herrin des Mondes führte sie hinaus zu einer Lichtung, in deren Mitte ein wunderschöner Baum mit einem rosasilbrigen Stamm stand. Der Stamm teilte sich in zwei ausladende Äste mit Zweigen, an denen eine Fülle roter Früchte hing. Der Vollmond schien in seinen oberen Zweigen zu ruhen, und sein Licht spiegelte sich in einem Teich mit dunkelblauem Wasser, das die kleine Insel umgab, auf der der Baum wuchs. Verschlungene Wurzeln rankten sich aus dem Erdreich hinab ins Wasser des Teiches.
»Dies ist dein Baum des Schoßes«, sagte die Herrin des Mondes und berührte Evas Bauch knapp unter dem Nabel. Eva spürte, wie in Reaktion auf diese Berührung der Bereich um ihre Gebärmutter zunehmend warm wurde. Und ebenso reagierte auch der Baum des Schoßes darauf und glühte vor Energie. »Der Wasserteich ist dein Unterbewusstsein, und die Wurzeln des Baumes des Schoßes reichen weit hinunter in seine Tiefe. Dein Bewusstsein und dein Leib sind miteinander verbunden, und was sich in deinem Bewusstsein abspielt, spiegelt sich in deinem körperlichen Innern wider.«
Eva fühlte sich in Frieden und Harmonie mit dem Baum und zu ihm hingezogen. Sie ging zum Rand des Wassers, sah in die Zweige, wollte sie berühren. Die Blätter des Baumes, dessen Zweige über den Teich hinüberreichten, raschelten und flüsterten ihren Namen.
»Eva, Eva«, sagten sie, »pflück eine Frucht von deinem Baum.«
Sie langte zu einem Zweig hinauf, der tief über dem Wasser hing, doch dann stockte ihr der Atem, und sie zog rasch die Hand zurück. Zwischen den Blättern und Früchten lag zusammengerollt eine kleine goldgrüne Schlange. Sie hob ihren dreieckförmigen Kopf und zischte.
»Ich bin die Hüterin des Baumes.« Ihre kleinen Augen blinkten im Mondlicht wie Edelsteine. »Wenn du dir diese Frucht nimmst, wirst du zur Frau werden und alle Kräfte erben, die das Frausein mit sich bringt. Du wirst mit dem Zyklus des Mondes bluten; du wirst zyklisch werden, nie unveränderlich sein, dich immer mit den Phasen des Mondes wandeln. In deinem Körper werden die Kräfte der Schöpfung und der Zerstörung erwachsen, und intuitiv wirst du in dir ein Wissen über die inneren Mysterien bewahren. Dein Leben wird zu einem Weg zwischen zwei Welten, der inneren und der äußeren Welt, und jede wird Forderungen an dich stellen. Alle Gaben des Frauseins müssen akzeptiert und geachtet werden; wenn nicht, können sie dich zerstören.« Die Schlange entrollte sich. »Es ist nicht leicht, dieses Geschenk anzunehmen; es wäre sehr viel leichter, ein Kind zu bleiben.«
Eva hielt inne, reichte dann spontan hinauf und pflückte eine Frucht. Da schoss die Schlange, noch bevor Eva reagieren konnte, auf sie zu und glitt in ihren Körper hinein bis hinunter zu ihrem