Sie senden den Wandel. Viviana Uriona
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Ich schätze den kritischen Ansatz der Aktionsforschung wegen der durch sie angeordneten großen Nähe zwischen Forschenden und den Menschen, zu denen geforscht wird, und dies nicht nur deshalb, weil damit die künstlichen (Macht)Grenzen zwischen Beurteilenden und Beurteilten aufgehoben werden, sondern auch, weil die in der Methode angelegte inhärente Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse die Sozialwissenschaft insgesamt bereichern dürfte.
Dennoch kam die Aktionsforschung als Methode für diese Arbeit nicht in Frage, und zwar weil mein Forschungsvorhaben den von Moser benannten »Minimalkonsens«19 für die Aktionsforschung in zwei Bereichen nicht erfüllte. Erstens bin ich kein gleichberechtigtes Teil der von mir untersuchten Bewegungen und musste mich auch nicht zu einem Teil machen. Dies wäre zweitens auch ganz sinnlos gewesen, denn in den untersuchten Gruppen bestand kein (gemeinsames) Problem, das wir hätten lösen können oder wollen. Die Untersuchten schilderten auch kein solches Problem, zu deren Lösung sie meine Mithilfe erfragt hätten.
Der Ausgangspunkt der Untersuchung lag nicht in einem Problem, sondern in der Suche nach den Ursachen eines »Nichtproblems«, nämlich der Suche nach den Gründen des Erfolges der Community-Radios, repräsentiert in ihrer großen Anzahl, ihrer großen Zuhörer*innenzahl und ihrer enormen sozialen Wirkung. Das zu lösende Problem bestand und besteht nicht in Argentinien. Es besteht in Deutschland und Europa.
3. Theoretische Rahmung
Durch das Herausarbeiten von Aussagen mit höheren Dichte (density20), welche in sich einen analytischen bzw. der Analyse zugänglichen Charakter trugen, entstand entlang der Auswertung der geführten Interviews (in zyklischer Form) die theoretische Rahmung dieser Studie. Mir war von Anfang an klar, dass ich mich auf die Suche nach prägender lateinamerikanischer Literatur machen musste. Diese Literatur beeinflusst bis heute maßgeblich Diskussionen um das Selbstverständnis der argentinischen (Medien-)Aktivist*innenszene. Darüber hinaus verfügt die untersuchte Szene über Kenntnisse und Durchdringungen der europäischen Literatur zum Thema. Diese Literatur wurde hier selbstverständlich auch herangezogen.
3.1 Begriff von Theorien und Theorie der Begriffe
Es ist natürlich unmöglich, beide Literaturkreise in inhaltlicher Hinsicht präzise voneinander abzugrenzen. Gleichwohl gibt es zwischen ihnen markante Unterschiede. Tendenziell pflegt die lateinamerikanische Literatur einen praktischen Umgang mit den von ihr behandelten medienpolitischen Themen. Sie ist agitativer, auf ihre Wirkung in der Medienwelt orientiert und legt weit weniger Wert auf begriffliche Diskussionen als in der europäischen Literatur üblich. Der Grund liegt wohl darin, dass sich die herangezogenen Autoren mit ihren Schriften sich auf eine lebendige Szene der gegenhegemonialen Praktiken stützen und abzielen können und ihre Werke daher zuerst für die Praxis und dann erst für die Universitätsbibliotheken schreiben. In dieser Literatur ist etwa die gelehrige Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Scheinöffentlichkeit oder die Abgrenzung von Öffentlichkeit als Zustand und Öffentlichkeit als Gruppe nicht besonders relevant. Dafür fragt sich diese Literatur aber beständig, wie sich die Öffentlichkeit als Menge der in irgendeiner Form erreichbaren und überzeugbaren Personen erreichen und überzeugen lässt oder wie hinsichtlich der Themensetzungen in den ersehnten Bereichen ein Höchstmaß an Öffentlichkeit (als Zustand) erzielt werden kann – ohne zwischen beiden Begriffen überhaupt zu unterscheiden. Es mutet seltsam an, die Qualität dieser Abhandlungen, die eine enorme soziale Wirkkraft haben, an ihrer begrifflichen Disziplin festmachen zu wollen.
Demgegenüber verfügen wir im europäischen Kontext über Arbeiten, die sich mit hoher sprachlicher Präzision seitenreich der Phänomenologie widmen, ohne die Vorstellungskraft oder Phantasie aufzubringen, wie sich die bestehenden Verhältnisse im Bereich der Themensetzungen dieser Arbeiten tatsächlich praktisch ändern ließen. Diese Arbeiten erreichen daher m.E. auch nur Menschen, die sie am Schreibtisch oder in der Bibliothek lesen, weil sie gerade selbst ähnliche Arbeiten verfassen. Diese Haltung des Scientia enim est solum scientia darf man kritisieren.
Für die Fertigstellung dieser Studie wählte ich einen Mittelweg zwischen lateinamerikanischer und europäischer Schule des wissenschaftlichen Schreibens. Ich verdichtete und kritisierte die europäischen Begrifflichkeiten in wiederkehrender Reflexion und im Kontrast zu der lateinamerikanischen Praxis. Feine begriffliche Differenzierungen nehme ich nur dort vor, wo sie zu einer (praktischen) Erkenntnis führen.
4. Kritische Begrifflichkeiten: Kommunikation, Öffentlichkeit und »Kommunikation als Menschenrecht«
4.1 Zum Begriff der Kommunikation
Wenn wir uns dem Begriff der Kommunikation etymologisch annähern, erfahren wir, dass das lateinische communicare »Teilen«, (sich) »Mitteilen« und »Teilnehmen« als eine Sozialhandlung bezeichnet. In dieser Studie gehe ich von der negativen Prämisse aus, dass die menschliche Kommunikation weder zum Selbstzweck geschieht, noch, dass sie gleichsam (Wesen des Menschen) als eine etwaige anthropologische Grundkonstante keiner materiellen Begründung mehr bedürfe. Ich gehe von der positiven Prämisse aus, dass communicare seine volle Bedeutung erst auf der Grundlage eines gemeinsamen Tuns erhält, auf das die Sprache gerichtet ist, ein Tun, das Prozesse vorantreibt und vervollständigt und auf Veränderung zielt. Kommunikation ist demnach für diese Studie ein (soziales) Mittel zur Gestaltung von Realität, ist mithin materiell orientiert und bemisst sich in ihrer Tauglichkeit daran, ob das gesetzte Ziel erreicht werden kann oder nicht.
Unter dem Zugang der Handlungstheorien wird Kommunikation auch (selbst schon) als soziales Handeln verstanden, dies aber selbstverständlich mit Ziele und Zwecken, die ihre Verortungen im Materiellen haben. Das übergeordnete Ziel ist die Entstehung neuer Gedanken, Ideen, Lösungen, welche die Realität (Wirklichkeit) als das Bezugsobjekt der Kommunizierenden betreffen. So schreibt John Dewey:
»communication can alone create a great community«21
Auch die Systemtheorie bringt nur einen sehr veränderten Blickwinkel, jedoch kein abweichendes Ergebnis mit sich. Die Autopoesis eines sozialen Systems erfordert selbstverständlich eine erfolgreiche Kommunikation, also eine Kommunikation der Systemteilnehmer*innen, die in der Folge die Funktionsgrundlagen des Systems betrifft, die eben nicht ideell, sondern materiell fundiert sind.
Weitere Theorien zu Kommunikation werden in die Arbeit einbezogen, die als aktuelle Weiterentwicklung der Chicagoer Schule22 der 1920er Jahre einzuordnen sind. Richtigerweise ordneten sie die Kommunikation in ihren sozialen Kontext ein und betrieben eine kritische Reflexion und Analyse der seinerzeit entstehenden mächtigen Medienmonopole. Diese Arbeiten untersuchen die Beziehungen zwischen Kommunikation, Demokratie und Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Verteilung gesellschaftlicher materieller Ressourcen.
Im Rahmen des materiell eingefassten Verständnisses von Kommunikation, das dieser Studie zugrunde liegt, ließe sich freilich endlos differenzieren, wenn dazu nur die passenden Fragen gestellt werden: Sind Selbstgespräche Kommunikation oder braucht es mindestens zwei Teilnehmer*innen?23 Inwieweit ist ein Roman ein kommunikativer Akt, wenn ihn niemand liest?24