Dornröschen muss sterben. Ulrike Barow
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8
Roland Lütjens stutzte. Den Mann kannte er. Dienstlich, das war ihm klar, und darauf hatte er jetzt und hier keinen Bock. Zumal er seinem alten Freund Hendrik noch nicht von seinem Job erzählt hatte. Nicht, dass er seinen Beruf nicht mochte, das ganz und gar nicht. Er hatte nur einfach keine Lust auf die ständig wiederkehrende Reaktion bei der Nennung seines Berufes. »Mensch, Kommissar, bei der Kripo, erzähl doch mal, muss ja spannend sein. Hast du denn auch schon mal einen richtigen Mord gelöst? Wie sieht so einer denn aus, so ’n richtiger Mörder? Hast du schon mal geschossen?« Immer die gleichen blödsinnigen Fragen und immer die gleichen Antworten. Das hätte er gerne vermieden. Aber jetzt würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als Hendrik reinen Wein einzuschenken. Schon sah er den Mann winkend auf sich zukommen.
9
»Roland Lütjens, wenn das mal nicht eine Überraschung ist. Ich grüße Sie.« Lachend begrüßte Wolf seinen Bekannten. »Was führt Sie hierher?«
»Ein Tag Urlaub von der Familie«, erwiderte Roland Lütjens und wandte sich an den Mann, der neben ihm stand. »Hendrik, das ist Wolf Arnken, wir kennen uns beruflich.«
»Auch in der Verwaltung tätig?«, fragte Lütjens’ Bekannter neugierig.
Der Detektiv erkannte erstaunt, dass dieser Hendrik nichts von Lütjens’ Beruf wusste. Wolf würde ihn darüber nicht aufklären. Der Kommissar hatte Gründe für sein Schweigen, und irgendwann kam vielleicht der Zeitpunkt, an dem sich Lütjens daran erinnerte, dass Wolf in dieser Situation zu schweigen gewusst hatte. »Nee, ich arbeite in der freien Wirtschaft«, antwortete Wolf. »Wir haben uns mal in Bad Zwischenahn getroffen.« Was nicht gelogen war.
Schnell wandte sich das Gespräch dem Inselleben zu. »Kommt, Leute, es gibt nichts, was wir nicht auch im Sitzen erzählen könnten!« Wolf steuerte die nächste Bank an, ohne auf die beiden anderen zu warten. Die vielen kleinen Genever in seinem Körper verlangten dringend nach einem Päuschen.
Er verdrehte genießerisch die Augen, als er erfuhr, dass Hendriks Zuhause im Bootshafen lag. »Auf einem Schiff zu wohnen, stelle ich mir wildromantisch vor. Dazu mit einer schönen Frau, äh, natürlich mit meiner schönen Frau, nachts im Mondschein auf einem Boot, das sich im Takt der Wellen bewegt … was kann es Großartigeres geben.«
»Hast recht«, sagte Hendrik. Alle drei waren schnell zum vertrauten ›Du‹ übergegangen. »Ich habe den Wahrheitsgehalt deiner Worte gestern Nacht noch ausprobiert. Leider ist meine Angebetete heute Morgen verschwunden, noch bevor ich sie Rolle vorstellen konnte. Ich verstehe wirklich nicht, dass Britta sich nicht mal bei ihrem Team abgemeldet hat. Ich muss doch gleich noch mal zurück zur Mehrzweckhalle und nachsehen, ob sie eingetroffen ist. Wer soll mir denn sonst die Nacht versüßen?«
»Bei der Lösung dieses Problems kann ich dir leider auch nicht helfen.« Wolf lachte. »Aber vielleicht findet sich im Zweifelsfall noch eine andere nette Dame bereit, die Nacht auf dem Boot mit dir zu teilen.«
»Na ja, eigentlich nicht, aber … ach, vergessen wir’s«, druckste Hendrik herum, bevor er sich an Roland Lütjens wandte. »Wann fährt eigentlich deine Fähre zurück, Rolle?«
»Um siebzehn Uhr, ich will aber vorher noch ins Heimatmuseum, mich dort ein bisschen bilden.«
»Und ich werde mich nun auf den Weg ins Ostdorf machen und dem Bliev Sitten einen Besuch abstatten.« Wolf erhob sich. »Mach’s gut, Rolle, auf irgendwann. Und Hendrik, wir könnten doch mal zusammen ein Bier trinken gehen. Ich wohne im Haus Marianne bei Kanters. Mein Sohn hat sowieso Vollbeschäftigung, also, wenn du Lust hast …«
»Gerne, und falls du dir mal das Boot von innen ansehen willst, jederzeit. Komm einfach vorbei.«
»Auch nachts zum romantischen Mondscheinschauen?«
»Untersteh dich, da bist du einer zu viel.«
»Verstehe ich nicht. Du würdest also tatsächlich Britta den Vorzug vor einer nächtlichen gemütlichen Männerrunde geben?« Lachend schüttelte Wolf den Kopf, winkte den beiden zum Abschied und war in Gedanken bereits bei einem leckeren Essen in seinem Lieblingsrestaurant.
10
»Netter Mann, dein Kollege«, sagte Hendrik. »Solche Stammgäste sind Gold wert für diese Insel. Komm, ich bring dich noch zum Heimatverein, Rolle, und dann werde ich mal wieder zum Boot schauen.«
Einträchtig liefen die beiden zum alten Bummert, der die Ausstellung des Heimatvereins beherbergte. Vor der Tür verabschiedeten sie sich. Sie tauschten ihre Handynummern aus und beschlossen, sich nicht wieder aus den Augen zu verlieren.
Auf dem Weg zum Hafen versuchte Hendrik noch einmal, Britta zu erreichen. Diesmal hatte er Glück.
Sie meldete sich sofort nach dem ersten Klingelton, aber ihre Stimme klang ganz klein und belegt. Hendrik merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung. »Britta, was ist los? Wo warst du die ganze Zeit? Ist was passiert?«
Er hörte Britta leise atmen, dann sagte sie: »Ach, Hendrik, ich musste mal kurz abtauchen. Mein Ex hat angerufen und gedroht, auf die Insel zu kommen. Und das wäre eine mittlere Katastrophe. Er lässt einfach nicht locker und wenn der seine Eifersuchtsanfälle kriegt, dann Gnade uns Gott. Ich bin gleich heute Morgen ganz früh aus dem Haus und um die Insel gelaufen. Damit mein Kopf wieder klar wurde. Ich habe nur der Chefin vom Küchenteam Bescheid gesagt, und die hat das leider nicht weitergegeben. Ich bin jetzt wieder in der Halle, da fühle ich mich sicher mit den ganzen Menschen um mich rum.«
Hendrik wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, fragte dann aber: »Soll ich kommen?«
»Nee, lass man, ich habe heute den ganzen Tag so viel zu tun, wir treffen uns um neun bei dir auf dem Boot. Fünf Uhr schaffe ich nicht.«
Hendrik war froh, nicht ihre Probleme teilen zu müssen. Spaß haben war gut, aber Beziehungskisten? Davon hatte er die Nase gestrichen voll.
Am Anleger war Ruhe eingekehrt. Einige Wattwanderer saßen mit bloßen Füßen vor dem Verhungernix und warteten auf den Wattführer, der ihnen bei Niedrigwasser die Geheimnisse des trocken gefallenen Landstriches zwischen Insel und Festland näherbringen wollte.
Am Steg sah Hendrik sein Boot träge in der Sonne dümpeln. Gleich daneben lag die Achteran.
Aus der Ferne konnte er keine Bewegung auf dem Boot ausmachen. Aber je näher er kam, desto deutlicher schälte sich ein Paar endlos langer Beine heraus, die sich in ihrer Bräune deutlich vom Weiß des Vordecks abhoben. Hendrik dachte an Wolfs Frage nach ›einer anderen netten Dame‹, mit der er eine Nacht auf der Antje hätte teilen mögen. Ob da wohl so eine Art Vorsehung drin gelegen hatte? Tatsächlich war in dem Moment vor seinem geistigen Auge das verheißungsvolle Lächeln von Hedda Kuhlmann erschienen. Genannt Schnucki. Vorsichtig näherte er sich, bemüht, die Planken des schmalen Steges nur ein klein wenig ins Wanken zu bringen. Sozusagen gerade genug, dass Schnucki die Augen aufschlug, jedoch ihre laszive Körperhaltung ansonsten nicht veränderte. Er hatte Glück. Schnucki hatte keinerlei Hemmungen, sich von ihrem Bootsnachbarn ausgiebig betrachten zu lassen.