Baltrumer Kaninchenkrieg. Ulrike Barow

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Baltrumer Kaninchenkrieg - Ulrike Barow

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merkte aber schnell, wie ihm der Atem ausging. Im Gegensatz dazu schien der Mann, der ihn verfolgte, kein Problem mit der Kondition zu haben. Als der Ennos Arm umklammerte und ihn zum Stehenbleiben aufforderte, klang seine Stimme ruhig und bestimmt.

      Dienstag

      »Herr Claaßen, was bedeutet KSV?«

      Thomas Claaßen schaute irritiert nach oben. Wie jeden Morgen schob er sein Fahrrad aus dem Keller die Schräge hoch ans Tageslicht. Es war noch früh. Eigentlich zu früh für Inselgäste. »Moment noch.« Mit letztem Schwung hievte er sein Rad auf den roten Klinkerweg und klappte mit dem Fuß den Ständer aus. Vor ihm standen Maren und Jan Schmitz, die Zwillinge, die er am Tag zuvor mit ihren Eltern vom Schiff abgeholt hatte. »So, noch einmal: Was wollt ihr wissen?«

      »Was bedeutet KSV?«, wiederholte Jan und gab auch gleich die möglichen Antworten. »Kommen Sie vorbei? Kultur-und Sportverein? Kaninchen schießen verboten?«

      Thomas Claaßen hätte beinahe gelächelt. Die letzte Antwort wäre genau die richtige für die Proniggels gewesen. »Die zweite Antwort.«

      »Wir machen nämlich beim Schatzkofferspiel mit. Wir haben uns gestern gleich den ersten Zettel aus dem Rathaus abgeholt«, sagte Maren. »Aber die Fragen sind nicht einfach. Können Sie uns helfen?«

      Thomas Claaßen schaute auf die Uhr. »Kinder, ich muss zur Arbeit. Fragt meine Frau.«

      »Aber eine Frage, bitte noch eine Frage«, bettelte Jan. »Was ist ein Palstek? Ein seemännischer Knoten? Ein Bretterweg am Strand oder ein Begrenzungspfahl der Badezone?«

      »Ein Palstek ist ein Knoten. So, jetzt muss ich aber wirklich.« Thomas Claaßen klappte den Fahrradständer zurück und fuhr los, ohne sich weiter um die beiden zu kümmern. Er wollte nicht zu spät kommen. Der neue Bürgermeister hatte ihn sowieso auf dem Kieker. Ihn und seine Kollegen.

      Er verstand es nicht. Jahrelang war alles prima gelaufen. Sie hatten ihre Arbeit gemacht, hatten sich von keinem reinreden lassen und fast immer hatten die Körbe pünktlich zum Beginn der Saison am Strand gestanden. Und nun, plötzlich, frei nach dem Motto: ›Neue Besen kehren gut‹, fing der Mann an, Dienstpläne aufzustellen, die Anwesenheit zu kontrollieren und mit ihnen Abläufe zu besprechen. Als ob der davon eine Ahnung hatte. Aber er war sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis sie Middelborg im Griff hatten. Immerhin war der von ihnen abhängig und nicht umgekehrt. Er hatte in seinem Arbeitsleben schon so viele Bürgermeister kommen und gehen sehen, da brauchte man eigentlich nur abzuwarten. Oder, wenn das zu lange dauerte, ihm seine Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen.

      Er wunderte sich. Die Tür zu seinem Arbeitsplatz stand offen. Das Licht brannte. Im Büro sah er Reinhart Petri stehen. »Was machst du denn schon hier?«, fragte er verblüfft. Sein Kollege war zwar stets pünktlich. Aber normalerweise war er, Claaßen, der Erste morgens.

      »Ich wollte … Middelborg hat gesagt … Wir sollen uns kümmern«, antwortete Reinhart Petri.

      »Worum?« Er war zwar selbst kein Freund großer Worte, aber Reinhart konnte einem schon ziemlich auf den Sack gehen, wenn er es nicht schaffte, sich klar und deutlich zu äußern. Wobei er seit Jahren vermutete, dass der Mann durchaus in der Lage war, vernünftig zu reden. Der hatte nur einfach keine Lust. Zumindest verweigerte der sich bei seinen Kollegen. Claaßen nahm an, dass es andere Gruppierungen gab, in denen Reinhart sich wohler fühlte. Aber das ging ihn nichts an.

      »Um … Um das Osterfeuer. Schon mal zusammenschieben und so.«

      »Quatsch. Das wird am letzten Tag zusammengeschoben. Nicht eher.« Thomas Claaßen wurde wütend. »Da werfen zig Leute noch was drauf. Das bringt gar nichts.« Was mischte der Chef sich wieder ein? Er sollte sie man machen lassen und sich um die Verwaltung kümmern. Und um die vielfältigen Wünsche der Gäste. Schließlich war Middelborg nicht nur Bürgermeister, sondern auch Kurdirektor. Da hatte er genug zu tun.

      »Aber er hat gesagt …«

      »Wenn hier einer was sagt, bin ich das, verstanden? Du gehst zur Turnhalle und räumst auf.«

      Reinhard Petri nahm seine Jacke vom Schreibtisch, zog sie umständlich an und schlurfte nach draußen.

      Claaßen atmete tief durch. Endlich allein. Er setzte sich auf den Hocker hinter dem Schreibtisch, nahm Zigarettenpapier und Tabak aus der Tasche seines Anoraks und zog den Aschenbecher zu sich heran. Erst mal eine rauchen. So wie jeden Morgen. Dann konnte es mit der Arbeit losgehen.

      Den ersten tiefen Zug aus der Selbstgedrehten genoss er mit geschlossenen Augen. Beim zweiten Zug merkte er, dass sein Handy in der hinteren Hosentasche vibrierte­. Ärgerlich zog er es heraus. Helma. Da musste er rangehen. Nützte nichts. Er legte die Zigarette auf den Aschenbecher und drehte sich zur Wand, bevor er sich meldete. Klar, sie konnte es nicht sehen, dass er rauchte. Es war schließlich nur ein Telefon. Aber bei Helma wusste man nie …

      »Thomas?«, hörte er seine Frau ins Telefon rufen.

      Sie rief immer. Er hatte es ihr nicht abgewöhnen können.

      »Thomas, ich hätte da mal eine Frage. Die Zwillinge stehen bei mir und wollen wissen, wann das Rathaus gebaut wurde. War das im März 1949, 1956 zum ersten­ April oder irgendwann im Dezember?« Sie lachte. »Na, ja, das Letzte wohl nicht.«

      »Helma, ich habe keine Ahnung. Außerdem muss ich arbeiten. Sollen es die Zwillinge bei denen erfragen, die dafür verantwortlich sind. Ist echt ’ne Zumutung für die Insulaner. Die von der Kurverwaltung denken sich irgendwelche dämlichen Fragen aus und die Insulaner sollen dann alles wissen, wenn ihre Gäste die richtige Antwort haben wollen.«

      »Schon gut, Thomas. Ich werde es schon herausfinden. Entschuldige die Störung – und rauch nicht so viel!«

      Da war es wieder. Wie hatte sie das nur herausgefunden? Es war scheißegal, ob er sich zur Wand drehte. Er hätte genauso gut weiterrauchen können. Es hätte nichts geändert. Die Hälfte seiner Zigarette war auf dem Aschenbecher sinnlos verglüht.

      Er machte sich auf den Weg zu Detlef Köster. Der Mann hatte gebeten, ihm zu helfen, weil er alleine nicht mit dem Verlegen seines Teppichbodens klar kam. Claaßen hatte natürlich zugesagt. So üppig waren die Gehälter bei der Gemeinde nicht, dass man nicht hin und wieder die Chance ergriff, sie aufzubessern. Tagsüber. Im Hellen arbeitete es sich einfach besser.

      *

      »Wir haben hier alle Waffenbesitzkarten und Munitionslisten der Jäger.« Arndt Kleemann blätterte die Papiere aufmerksam durch. »Die diversen Patronenhülsen, die wir im Umfeld der Leiche eingesammelt haben, stimmen mit den Angaben überein. Allerdings können wir noch nicht feststellen, ob auch das Einschussloch, beziehungsweise der Einschusskanal zu einer der Patronen passt.« Er zögerte. »Moment mal. Die Kollegen haben hier eine Sorte auf der Liste, die wir bei den Jägern nicht finden.«

      »Das ist gut möglich. Im Herbst sind viele Jäger vom Festland auf Baltrum. So eine Hülse verwittert nicht schnell«, sagte Michael Röder. »Und das wird natürlich eine schwierige Angelegenheit, herauszufinden, wer alles hier war und mit welcher Munition geschossen wurde.«

      »Setz dich noch einmal mit dem Jagdpächter, dem Jörg Weber, in Verbindung. Er soll uns eine möglichst vollständige Liste der Gastjäger übermitteln. Vielleicht kennt er jemanden, der diese Munition benutzt.«

      Michael Röder stand auf und ging in den Flur, der die Wache mit seiner Dienstwohnung verband. Hier war es ruhiger.

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