Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste. Elfriede Jahn

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Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste - Elfriede Jahn

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sollst mich nicht immer Laura nennen“, sagte die alte Dame ruhig. „Vor allem nicht vor deinen Freunden. Suchend sah sie sich um. „Wo sind sie eigentlich?“

      „Die mussten heim“, antwortete Mary vage. Der Wasserkessel pfiff, und sie lief erleichtert nach nebenan, um den Tee aufzugießen. Laura folgte ihr in die Küche.

      „Was ist denn los mit euch?“, fragte sie. „Ihr drei habt doch irgendetwas vor?“

      Mary schüttelte den Kopf, und ihre Großmutter nahm sie fest am Arm und führte sie ins Wohnzimmer zurück.

      „Setz dich, Kind“, forderte sie Mary auf, die gehorchte, dann nahm die Großmutter neben Mary Platz.

      „Ich spüre doch, dass etwas passiert ist.“ Aufmerksam sah Laura ihre Enkelin an, bevor sie nachdenklich hinzufügte: „Ich sehe es doch, Mary, wenn ich dich anschaue. Du kannst mir nichts vormachen.“

      Mary, die wusste, dass ihre Großmutter ihr nie böse war, seufzte unglücklich: „Ich kann es dir nicht erzählen“, sagte sie leise und versicherte dann: „Glaub mir, Großmutter, wir machen keine Dummheiten.“

      Laura schwieg. Sie wusste seit heute Morgen, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Das war der Grund, weshalb sie früher als geplant nach Hause gekommen war.

      „Ich hab für dich die Zigeunerkarten gelegt“, sagte Laura und schüttelte den Kopf, „doch ich konnte sie nicht deuten.“ Wieder schwieg Laura eine Weile, bevor sie fortfuhr: „Ich verstehe ihre Botschaft zwar nicht, konnte allerdings erkennen, dass uns große Veränderungen bevorstehen.“

      Laura legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. „Versprich mir, Kind, dass du dich nicht in Gefahr bringst.“

      Mary, der es wehtat, dass sie Laura nicht ins Vertrauen ziehen konnte, umarmte sie und sagte leise: „Ich hab dich sehr lieb, Großmutter.“

      „Ich dich auch“, flüsterte Laura, „aber das weißt du ja.“

      Dann lachte Laura und fragte: „Hast du heute noch was vor?“

      Als Mary verneinte, zog Laura sie hoch. „Dann koche ich uns meinen berühmten Bohneneintopf, und während der vor sich hinköchelt, spielen wir eine Runde Karten. Ganz wie in alten Zeiten!“

      Es wurde ein sehr gemütlicher Abend, an den Mary noch lange zurückdenken würde. Der Regen, der leise gegen die Fenster trommelte, der süße Duft von Bienenwachs, mit dem Laura die alten Möbel behandelte, der warme Schein der Lampen und das Knistern des Kaminfeuers: die vertraute Umgebung half Mary, sich zu entspannen. Sie gewann ihre spontane Fröhlichkeit zurück, und Laura ließ sich nicht mehr anmerken, dass sie sich Sorgen um ihre Enkelin machte. Was immer Mary erwartete, sie war überzeugt, dass sich dahinter etwas Gutes und Wundervolles verbarg. Sie hatte schon immer gewusst, dass dieses Kind im Leben eine besondere Aufgabe zu erfüllen hatte. Nun, da die Zeit gekommen war, musste sie Mary gehen lassen, so schwer ihr das fiel.

      Als sie in ihrem Bett lag, dachte Mary mit großer Zärtlichkeit an ihre Großmutter und mit Wehmut an ihre Mutter, die ihr so ähnlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie, wann immer sie als Kind bei ihrer Großmutter übernachtet hatte, auf ihrem Kopfkissen eine weiße Feder gefunden hatte. „Das ist ein Engelgruß, der dir gute Träume schenkt“, hatte Laura dann immer gesagt.

      Trotz der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, und obwohl keine Feder mehr auf ihrem Kopfkissen lag, schlief Mary in dieser Nacht tief und traumlos.

      Larry und Doff übernachteten im Bootshaus beim Anlegesteg. Während Larry bereits leicht schnarchte und von Mary träumte, konnte Doff lang nicht einschlafen. Er lag in der anderen Ecke der zugigen Holzhütte auf seiner Matratze, in warme Decken gehüllt, und lauschte dem Geräusch, das die Wellen machten, die sich am Steg brachen. Noch konnte er sein Glück gar nicht fassen: War er wirklich dazu bestimmt, gemeinsam mit seinen Freunden ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben? Es war beinah zu schön, um wahr zu sein.

      Bilder aus seiner Vergangenheit quälten Doff: die unordentliche Wohnung seiner Eltern in Townsend; seine Mutter, die im selben Pub als Bedienung arbeitete, in dem sich sein Vater jeden Abend betrank; die täglichen, lautstarken Auseinandersetzungen seiner Eltern und die Gesichter seiner Geschwister, die sich erschrocken aneinanderkauerten. Hoffentlich ging es ihnen gut!

      In Doffs Vorstellung wurde Larry zum Ritter in silberner Rüstung, der auf seinen Schimmel sprang, um aus seiner untergehenden Heimat zu fliehen, und Mary zur Lichtgestalt, die sie beide leitete. Langsam lullte ihn der Rhythmus der Meereswogen ein und Doff schloss die Augen. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern ging, rosig wie eine riesige Marzipankugel, die Sonne auf. Doff lächelte selig. Er würde keine Leichen für Master Ruppy waschen, sondern stattdessen ein großes Abenteuer erleben! ... Leise begann er zu schnarchen.

      Der Aufbruch

      In den nächsten Tagen trafen sich die Freunde immer zur verabredeten Zeit in ihrem Versteck. Gleich neben ihrem Eingang hatte sich eine Seedohle ihr Nest gebaut, das war allerdings zu ihrer Enttäuschung das einzig Bemerkenswerte, was sich ereignete. Mary fiel es zusehends schwerer, sich auf ihre alltäglichen Pflichten in der Schule zu konzentrieren. Am Nachmittag des dritten Tages betrat sie die kleine Buchhandlung in Lysardh Fount. Sie hatte beschlossen, ein Tagebuch zu führen, in dem sie alles aufzeichnen wollte. „Ablegen der Gedanken“ nannte sie es. Heute wollte sie damit anfangen.

      Die Ladenbesitzerin, Mrs Toth, begrüßte sie wie gewöhnlich überfreundlich, was Mary nicht ausstehen konnte. Sie war grellblond gefärbt, davon abgesehen allerdings eher hausbacken, was sie vergeblich durch modische Kleidung wettzumachen versuchte. Ihren neugierigen, kleinen und flinken Augen entging nichts.

      „Du strahlst ja richtig, Mary“, flötete sie mit der sanften Stimme, die ihren Kunden vorbehalten war. Larry hatte erzählt, dass ihr spindeldürrer Mann, der die Bäckerei zwei Häuser weiter betrieb, diese freundliche Stimme so gut wie nie zu hören bekam. Wie immer war Mary höflich, aber reserviert. Rasch sah sie sich um, entdeckte, was sie suchte, wechselte mit Mrs Toth einige belanglose Sätze über das Wetter, bezahlte das zu teure, aber schön gebundene Tagebuch an der Kasse und ignorierte die Frage der Buchhändlerin, ob sie denn schon einen Freund habe.

      Als sie auf der Straße stand, atmete Mary erleichtert auf. Mit der Hand strich sie über den Buchdeckel, den ein Rosenmuster zierte, und dachte über die ersten Zeilen nach, die sie ihrem Tagebuch anvertrauen wollte. Ihre Reise sollte nach Pakistan gehen. Mary wusste nicht viel über dieses Land. Keiner von ihnen besaß einen Computer, doch Mary hatte sich in der Schule einige Fakten herausgesucht. Zum Glück besaß ihr Lehrer einen alten Computer, den er ihr zur Verfügung stellte ...

      „Ein Reiseführer wäre gut“, dachte sie, „mit Fotos und allem Drum und Dran.“ Doch den müsste sie bei Mrs Toth bestellen und das war bei deren Neugierde und Tratschsucht zu riskant.

      So schlenderte sie auf dem Nachhauseweg durch den nahen Park. Es war später Nachmittag, und sie wollte sich dort auf eine Bank setzen, um in Ruhe ihre ersten Einträge über die Erlebnisse der letzten Tage zu machen. Während sie über das Gras spazierte, fiel ihr ein junger Mann auf. Er saß allein auf einer Parkbank, blickte nachdenklich vor sich hin und schien auf jemanden zu warten. Mary ging langsamer und musterte den Mann aus dem Augenwinkel. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er hatte reine klare Gesichtszüge und außergewöhnlich grüne Augen. Sein makelloses Gesicht war umrahmt von dunkelblonden langen Haaren. Marys Schritte wurden noch langsamer und, ohne es selbst bemerkt zu haben, war sie plötzlich stehen geblieben. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft sie zu diesem Fremden hinzog. Unvermittelt hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen.

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