Jenseits-Welten. Ernst Sturmer
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Mythologie und Volksglaube überwucherten aber die Philosophie. Im Allgemeinen war für die antiken Griechen als Anbeter der Jugend, der Schönheit und der Kraft der Tod ein Schreckgespenst.
Denn die Normalsterblichen erwartet im Hades ein düsteres Dasein als scheue und kraftlose Schattenwesen, die in Trauer dahindämmern.
Um in das Reich des Todes, den Hades, zu gelangen, müssen die Verstorbenen den Fluss des Vergessens – Lethe – überqueren – mit Hilfe des schreckenerregenden und schmutzstarrenden Fährmanns Charon. Beim Bestattungsritual wurde dem Toten eine geringwertige Münze (Obolus) in den Mund gelegt, damit er den Fährmann bezahlen kann. Was Charon mit den vielen Moneten anfängt, wissen nur die Götter.
Das Tor zur Unterwelt bewacht zähnefletschend der dreiköpfige Höllenhund Cerberus, so dass kein Lebender die Unterwelt betreten und kein Toter ihr entfliehen kann. Beschrieben wird er als Bestie mit Kupferstimme und tödlichem Atem.
Herrscher über den Hades (ursprünglich „Haus des Hades“) sind der namensgebende gefürchtete und gehasste Gott Hades, der kaum kultisch verehrt wurde, und seine schöne Gemahlin, Göttin Persephone, die nicht freiwillig in die öde Unterwelt ging. Sie wurde vom hartherzigen Hades mit Gewalt aus der Oberwelt in die Unterwelt entführt und fügte sich in ihr Schicksal. Zumindest einen Teil des Jahres muss sie als Gefährtin der düsteren vollbärtigen Majestät in der sonnenlosen modrigen Totenwelt verbringen. Weil sie nach der Entführung in der Unterwelt heimlich Granatapfelkerne gegessen hat, ist sie an das Totenreich gebunden ‒ so will es die Legende.
Charon (nach Michelangelo): der Fährmann bringt die Toten über den Fluss in den Hades
Der dreiköpfige Höllenhund Cerberus wacht, damit kein Lebender die Unterwelt betritt und kein Toter sie verlässt
Der beinahe unverwundbare antike Superheld Achilles beneidete den Jenseitsgott nicht um seinen Job: „Ich wäre lieber der Knecht eines Taglöhners oder Bettler auf Erden als der Herrscher aller Toten im Hades“.
In der Frühzeit glaubten die Griechen noch nicht an eine Bestrafung oder Belohnung im Hades. Ob reich oder arm, hochrangig oder gering, schlecht oder gut ‒ im finsteren und feuchten Totenreich lebten sie schmerzlos als Schatten.
Erst später, als der Gerechtigkeitssinn wuchs, kam der Glaube hinzu, dass Totenrichter ‒ wie Rhadamanthys ‒ die schlimmsten Verbrecher (z.B. Tyrannen, Mörder, Tempelräuber) in den Tartaros unterhalb des Hades und die edlen Seelen ins Elysion schicken.
Mit angebissenem Granatapfel: Persephone = Proserpina, Fürstin der Unterwelt wider Willen
Tantalos, Sisyphos und Co.
Der Tartarus ist also der schreckliche Verbannungsort für die ärgsten Missetäter und Gottesfrevler, die immerwährende Marter erleiden für Vertragsbrüchigkeit, Hass und Neid gegen Brüder, Gewalt gegen den eigenen Vater, Treulosigkeit, Ehebruch usw.
Die berühmtesten Insassen des Strafortes Tartarus kennen wir noch aus dem Geschichtsunterricht unserer Schulzeit.
> Sisyphos: Der gerissene, verschlagene und skrupellose König von Korinth, der um das Jahr 1400 v.Chr. gelebt haben soll, pflegte die Götter zu verachten und zu verärgern. Zur Strafe muss er im Tartarus in alle Ewigkeit schweißtriefend einen riesigen Felsbrocken auf einen Berg wälzen. Die Tücke: knapp vor dem Gipfel entgleitet ihm der Stein, der mit donnerndem Gepolter in die Tiefe stürzt. So muss Sisyphos ständig von vorne anfangen.
Sisyphos (latinisiert: Sisyphus) ist selbst in unseren Breiten im 21. Jahrhundert noch im Gespräch: wir reden von einer „Sisyphusarbeit“, wenn wir ein stupides, sinnloses, vergebliches Tun beschreiben, das trotz dauernder Anstrengung nie ans Ziel führt.
> Danaiden: Ein anderer Begriff für nutzlose mühsame Arbeit ist „Danaidenarbeit“. Die Erklärung führt uns ebenso in die Tiefen des Tartarus.
Die 50 Töchter des griechischen Stammvaters König Danaos, die Danaiden, erdolchten alle (bis auf Hypermnestra) in der Hochzeitsnacht ihre Ehemänner. Zur Strafe müssen die Männermörderinnen im Tartaros in ewiger Qual Wasser aus ihren Krügen in ein durchlöchertes Fass schütten.
Die Danaiden
> Tantalos: der reiche und mächtige König in Phrygien (Gebiet in Kleinasien) beschwindelte und beraubte die Götter, brach Eide und maßte sich sogar an, deren Allwissenheit auf die Probe zu stellen. Für seine Frevel wurde er in den Tartaros verstoßen und mit dreifacher nie endender Qual bestraft: Durst, Hunger und Todesangst.
Er steht mit brennendem Durst in einem Teich mit kristallklarem Wasser, das kühle Nass umplätschert sein Kinn. Doch sobald er sich bückt und versucht, nach Wasser zu schnappen, versickert es.
Entsetzlicher Hunger quält ihn. Duftende Früchte hängen in Griffweite über ihm, saftige Birnen, rotwangige Äpfel, süße Feigen… Wenn Tantalos sich streckt, um eine Frucht zu pflücken, reißt ein Windstoß die Äste empor.
Zu Hunger und Durst gesellt sich die ständige Todesangst. Denn über seinem Haupt schwebt ein loser mächtiger Felsbrocken, der jeden Moment herabzustürzen und ihn zu zerschmettern droht.
Noch heute sprechen wir von „Tantalusqualen“ (Tantalos latinisiert: Tantalus), wenn wir dem Gewünschten zum Greifen nah sind, es aber wegen widriger Umstände nicht erreichen.
> Ixion: Der Fürst des sagenhaften Volks der Lapithen war in der griechischen Mythologie der erste Mensch, der jemals einen Verwandten ‒ seinen Schwiegervater ‒ getötet hat. Obendrein bedrängte und begehrte er im Weinrausch Hera, die Gattin des Göttervaters Zeus. Er brüstete sich, mit der Göttin geschlafen zu haben.
Zur Strafe dafür wird der Frevler im Tartaros auf ein feuriges Rad gespannt, das sich ewig dreht.
Nr.46: Sisyphos, Nr.47: Ixion, Nr.48: Tantalos, Nr.49: Danaiden
Die in den höllenartigen Tartaros verstoßenen unheilbaren Seelen sind also unermesslichen Qualen ausgeliefert. Und sie werden von Erinnyen/Furien ‒ geifernden Rachegeistern ‒ gequält, die kein Mitleid kennen.
Ewiger Frühling
Die Mysterienkulte ab dem 6. Jahrhundert vor Christus belebten den Glauben der antiken Griechen an das Elysion: ein paradiesisches Gefilde für Günstlinge der Götter. Die Totenrichter erlaubten den Frommen und Gerechten sowie den Helden in das Elysion, den Ort der Seligen, einzuziehen.
Die Glückseligen und Auserwählten wandeln in ewigem sanften Frühling über rosengeschmückte Wiesen, tanzen in Myrtenhainen, reiten im Schatten von Weihrauchbäumen, singen zum Flötenschall, erfreuen sich am Ringkampf oder am Brettspiel ‒ und lobpreisen die Götter.
„Jede Art von Glückseligkeit