„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“. Richard A. Huthmacher
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„Jede soziale Schicht brachte ihre eigene Reformation hervor. Der hohe Adel schloss sich samt … Untertanen Martin Luther an, das Bürgertum in den Städten vorrangig Zwingli und Calvin, die humanistischen Bildungsbürger Philipp Melanchthon, Bergknappen und Bauern Thomas Müntzer, die einfachen Handwerker Balthasar Hubmaier und den Täufern, die Ritter, also der niedere Adel, Franz von Sickingen. Es entstand sogar, immer noch wenig bekannt, eine Reformation der Frauen … Martin Luther, der Vorkämpfer, ist einer der Großen, gewiss – und dennoch nicht ´der´ Reformator, sondern einer von zahlreichen Reformatoren, ebenso wie es viele Reformationen oder reformatorische Strömungen gab und nicht die eine Reformation. In Wellen breitete sie sich aus, zuerst die Rebellion unter Luther, die soziale Revolution von Müntzer bis Münster [Täuferreich von Münster], dann die städtische Reformation bei Zwingli und die Restaura-tion unter den Fürsten bei Melanchthon, schließlich die Reglementierung des bürgerlichen Lebens bei Calvin. Die weltweite Ausbreitung gelang dann durch die Mission und durch die Verfolgten, die die neue Lehre in andere Länder trugen.“
Insofern war die Reformation nichts anderes als ein gigantischer Kampf der Systeme an der Schwelle zu einer neuen Zeit, als Auseinandersetzung um Macht und Herrschaft, verbrämt als religiöser Richtungsstreit. Und so wandelte sich die „Revolution“ nach Niederschlagung des Bauernaufstandes mit tatkräftiger Hilfe Luthers immer mehr zu einer „Fürsten-Reformation“, zu einer „Reformation von oben“, will meinen zum Aufbau einer protestantischen Kirche im Schulterschluss mit (und in Abhängigkeit von) Territorial-Fürsten und den Obrigkeiten der Städte. Der Bauernkrieg von 1525 war zwar die größte Massen-erhebung von Bauern, die je in deutschen Landen resp. in deutschsprachigen Ländern stattfand: „Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, [jedoch] an der Theologie“, so Karl Marx. Fürwahr. An der Theologie. Eher noch an theologisch verbrämter Ideologie. Namentlich der von Luther.
In summa sind der Papst, „der Jud“ und „der Tuerck“ die drei großen Feindbilder Luthers. Indes: Es gibt ein weiteres, das von der Lutherographie jedoch nicht oder kaum benannt wird – der „gemeine Mann“, der gegen die Obrigkeit aufbegehrt und den es in seine Schranken zu weisen gilt: „Wie eine bösartige Geschwulst wucherte die Inquisiton über Jahrhunderte in der Gesellschaft des Abendlandes. Nicht allein die katholische Kirche war schließlich infiziert. Die Reformer, allen voran Martin Luther und Calvin, gebärdeten sich vermeintlichen Ketzern und Hexen gegenüber zum Teil schlimmer als die päpstlichen Inquisitoren. Nicht immer gingen Feuer und Folter von Rom aus … Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, waren in diesem Punkt keinen Deut besser als die papsttreuen Katholiken.“
Zu hexen sei nicht nur ein strafbares Vergehen, vielmehr die Abkehr von Gott, sei deshalb durch die (weltliche) Obrigkeit, sprich: durch staatliche Gewalt zu bestrafen. Mit dem Schwert. Ohne Gnade. Rücksichtslos. Indes: Die Konfessionalisierung im 16. Jhd., d.h. die Aufspaltung in katholische, lutherische und reformierte Kirchentümer, in korrespondierende Einflussbereiche und dementsprechende staatliche Herrschaftsgebilde, diese Konfessionalisierung mitsamt ihren Auswüchsen (wie der Verfolgung von sog. Hexen, d.h. namentlich von Hebammen und „weisen Frauen“) war – realiter – ein großer sozial- und herrschaftspolitischer (Neu-)Entwurf, welcher der sozialen Disziplinierung derjenigen (Interessengruppen und Bevölkerungsteile) bedurfte, die aufbegehrten. Die Abtrünnige, Ketzer, Hexen, Buhlschaften des Teufels, Satansbrut und dergleichen mehr genannt und – als solche, (im wahrsten Sinne des Wortes) ohne Rücksicht auf Verluste (viele Menschen starben, weil sie auf die Hilfe heilkundiger Frauen fortan verzichten mussten!) – verfolgt wurden.
Somit bleibt es meines Erachtens fraglich, ob Luthers Hexenwahn einer allgemeinen resp. seiner höchst eigenen Paranoia entsprang oder doch mehr und eher Ausdruck eben dieser sozialen Disziplinierung war (mit Luther sowohl als Täter, weil er den Wahn schürte, wie auch als Opfer seiner eigenen Inszenierung), einer Disziplinierung jedenfalls, die alle – namentlich Frauen und insbesondere solche wie Hebammen und Heilerinnen – verfolgte, die nicht gesellschaftlich kompatibel waren. So also fand (schon damals) eine Ideologisierung der Massen statt, und erwünschter Wahn wurde zum gewollten System, das eine große Eigendynamik entwickelte, sodass die Täter ihrem eigenen Tun anheim und dem selbst produzierten Irrsinn zum Opfer fielen.
Die Theologie Luthers hatte die Funktion und Bedeutung, die heute die sog. Human-Wissenschaften (wie Medizin, Psycholgie und Soziologie) einnehmen: Sie, erstere, die Theologie, wie letztere, die Human- und Sozial-Wissenschaften, verbrämen und liefern die geistige Grundlage für realpolitische Herrschafts-Systeme. Und der Liebe Gott fungiert ggf. als Platzhalter und Lückenbüßer.
Zu Luthers Zeit konkurrierten die sich entwickelnden Territorialstaaten (vom Rittergut bis zum Fürstenreich) mit der weltlichen und kirchlichen Zentralgewalt, sprich: mit Papst und Kaiser; sowohl die Herrschaftsgewalt als solche als auch die aus dieser resultierenden Pfründe standen zur Disposition. Aus diesen sozialen Kämpfen zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich nach und nach das kapitalistische System, das wir heute kennen; zunächst gab es noch viele Elemente des Feudalismus´ und absoluter Willkürgewalt („L´état c'est moi“, so bekanntlich der Sonnenkönig, Ludwig XIV.), dann folgten die sog. bürgerlichen Revolutionen (beispielsweise die französische von 1789 oder auch die amerikanische von 1776) eben jener Bürger, die durch zunehmende Kapitalakkumulation reich und mächtig geworden waren: Sie sind als Emanzipationsbewegung gegenüber den noch dominierenden feudalen Strukturen und Funktionsträgern, sprich gegenüber Adel und Klerus zu betrachten. Schließlich entstandaus dem bürgerlich-kapitalistischen System das der Kartelle und Konzerne im Neoliberalismus heutzutage.
Deshalb stellt sich die Frage: Wer gab hinter den Kulissen von Sein und Schein tatsächlich den Ton an? Sicherlich weder Luther noch Müntzer. Die Fürsten? Der Kaiser? (Immer noch und weiterhin) der Papst? Oder doch die Fugger, Welser und Co., die Herrscher des Geldes, die (fast) alle kaufen (können). Auch die Fürsten, die Kaiser, die Päpste. Einen Luther zumal. Einen Müntzer mitnichten.
„Hitler berief sich wie die evangelische Nazikirche der Deutschen Christen auf Luther ... Julius Streicher, Gründer des Nazi-Hetzblattes Der Stürmer, meinte gar in den Nürnberger Prozessen, dass Luther ´heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank säße´. Vielleicht hätte er da … zu Recht gesessen als einer der geistigen Brandstifter, die die deutsch-protestantische Geschichte antisemitisch fundierten.“
In der Tat: „Der Reformator war nicht nur Antijudaist, sondern Antisemit. So wurde er auch in der NS-Zeit rezipiert … Martin Luthers späte ´Judenschriften´ sind heute nicht mehr so unbekannt, wie sie lange Zeit waren – und das Entsetzen über den scharf antijüdischen Ton des Reformators ist allenthalbengroß.“
Und: Die Bedeutung Luthers als ideologischer Protago-nist in dem seit Jahrhunderten vorprogrammierten „ultimativen“ Konflikt „der Deutschen“ mit „den Juden“ ist ebenso eindeutig wie unbestreitbar: „Der Philosoph Karl Jaspers schrieb schon 1958, als ... die protestantischen Fakultäten [noch] peinlich darauf bedacht waren, dass nichts von Luthers Schandschrift bekannt wurde, auf die sich … Julius Streicher vor dem Nürnberger Kriegsver-brechertribunal ausdrücklich berufen hatte: ´Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.´ Und in einem anderen Werk schrieb Jaspers 1962: ´Luthers Ratschläge gegen die Juden hat Hitler genau ausgeführt.´“
Bezeichnenderweise wurden Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts und dessen Verunglimpfungen alles „Undeutschen“ und Artfremden“ mit großer Zustimmung in der völkisch-protestantischen Szene aufgenommen: marxistischer wie katholischer Internationalismus seien die beiden Facetten desselben jüdischen Geistes(!) und die Reformation werde in einer erneuerten