Benoni. Hermann Moser
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Nyoko hatte als Chefin ein eigenes Büro. Sie benutzte es fast nie. Meistens saß sie mit dem Laptop bei ihrer Gruppe im Gemeinschaftsbüro auf der Besprechungscouch im Schneidersitz, manchmal gar im Lotussitz. Sie unterschrieb gerade einige Formulare, als Christian und Johann nach stundenlanger Recherche aus dem Archiv zurückkamen. Sie schoben einen mit Akten voll beladenen Wagen vor sich her.
Nyoko unterzeichnete die letzten Papiere ungelesen und war froh, sich mit etwas anderem beschäftigen zu können. „So viele Akten bei einer Kindesweglegung? Das hätte ich nicht erwartet.“
Christian widerstand dem Drang, seine Frau zu küssen. Die beiden hatten einen Dienstzeit-Zölibats-Eid ablegen müssen, um in derselben Gruppe arbeiten zu dürfen. „Mit deinen Erwartungen lagst du nicht so falsch.“ Er zeigte ihr einen dünnen Schnellhefter. „Das ist der Findelkind-Akt. Der Rest gehört zu einem Fall, der damit zusammenhängen könnte. Aus der Asservatenkammer haben wir auch etwas mitgebracht.“
Nyoko nahm den Beutel, den Christian ihr reichte. „Ist das die Strampelhose von Friedrich? Nein, wie süß! Schaut euch die Akten an, ich muss wieder einmal zu einer langweiligen Besprechung.“
Als Nyoko von der Abteilungsleiter-Konferenz zurückkam, verband Paul seinen Laptop mit dem großen Bildschirm, der an einer Wand des Büros hing. Er hatte mit Bauplänen aus dem Jahr 1989 ein 3D-Modell des Krankenhauses Rudolfstiftung programmiert, dazu die Bewegungen der Menschen laut den Zeugenaussagen. Jene Nacht erwachte in der virtuellen Realität zu neuem Leben. Sogar einen Keystone Cops-Avatar hatte er programmiert. Der näherte sich dem siebzehnstöckigen Hochhaus aus der Luft, landete auf dem Hubschrauberlandeplatz und fuhr mit dem Aufzug in die chirurgische Abteilung im sechsten Stock. Paul war bei seinen Modellen immer etwas detailverliebt.
Christian moderierte die Bilder: „Am 9.11.1989, während die ganze Welt die Nachrichten aus Berlin verfolgt, holt die Krankenschwester Stephanie Kleindienst um etwa 23 Uhr Bettwäsche aus dem Lager im Keller.“ Die virtuelle Kleindienst fuhr hinunter, ging durch einen langen Gang und betrat einen Raum. „Hier findet sie das Baby, also Friedrich. Die letzte Person vor Kleindienst hat diesen Raum um 21 Uhr verlassen. In diesen zwei Stunden wurde Friedrich hier abgelegt.“ Paul wechselte zu einem großen Schema des Gebäudes, ein kleines Baby zierte das Wäschelager. Christian sprach weiter. „Es gibt einen Nachtportier beim Haupteingang und einen Nachtwächter, der festgelegte Runden dreht.“ Christian zeigte die Wege. „In der Nacht ist nur der Haupteingang offen, aber das Personal hat Schlüssel für die anderen Türen und es gibt zusätzlich versperrte Personaleingänge. Paul, zeig uns bitte noch einmal die Bewegungen der Menschen.“
Die Keystone Cops beobachteten das nächtliche Treiben in der Rudolfstiftung. Patienten hielten sich in den Raucherzonen auf, Ärzte und Schwestern gingen zu ihren Stationen, Verletzte kamen in die Notfallambulanz, der Nachtwächter drehte seine Runden. Bei der Zeitmarkierung 22 Uhr 45 sprang Nyoko auf. „Stopp! Hier ist zum ersten Mal eine Lücke, wo sich jemand unbeobachtet zum Wäschelager bewegen konnte, und zwar durch diesen Eingang, für den man einen Personalschlüssel braucht. Friedrich wird abgelegt und schon ein paar Minuten später kommt Kleindienst. Man hat das Kind in ein Krankenhaus gelegt, wollte, dass es versorgt wird. Warum in einen Kellerraum, der in der Nacht kaum frequentiert wird? Das war kein Zufall. Kleindienst hat etwas damit zu tun, wir müssen sie befragen.“
Christian bat Paul, die Zeit auf 20 Uhr zurückzudrehen. „Ich glaube auch, dass sie irgendwie verwickelt ist, sie war aber nicht die Mutter. Es gibt nur zwei Probleme. Erstens: Sie war seit 20 Uhr im Dienst und niemandem ist aufgefallen, dass sie einen Säugling dabei hatte …“
Nyoko kam in Fahrt. „… dann hatte sie eben Komplizen. Was immer damals war, ist jetzt 28 Jahre her. Es wird Zeit, dass sie es uns erzählt …“
„… das führt uns zum zweiten, größeren Problem. Es befindet sich in den Aktenstößen auf dem Wagen. Ich übergebe an Johann.“
Der Angesprochene öffnete eine der Schachteln, nahm ein Foto aus einem Ordner und legte es auf den Tisch. Sie betrachteten die Frau. Eine Schusswunde in der Brust und eine in der Stirn. Johann legte zwei Beutel mit den Projektilen und einen Zeitungsausschnitt daneben. „Geiseldrama in Bank! Eine Tote!“ Es war die Ausgabe vom 1. Dezember 1989, also drei Wochen nach Friedrichs Geburt. Paul zeigte die Fotos der Überwachungskameras auf dem Bildschirm. 5-Sekunden-Takt. Schwarz-weiß. Unscharf. Zwei maskierte Männer mit Maschinengewehren stürmten die Bank. Sie bedrohten die Kunden und Angestellten. Einer schoss auf eine Geisel. Sie lag am Boden, ein Gewehr auf ihren Kopf gerichtet. Die Männer liefen hinaus.
Johann nahm das Tatort-Foto. „Das ist Stephanie Kleindienst. Der Bankräuber hat ohne Grund plötzlich auf sie gefeuert. Den ersten Schuss in die Brust hat sie überlebt. Der zweite hat aus nächster Nähe ihren Kopf getroffen, das war eine sinnlose Hinrichtung. Die Täter sind ohne Beute geflüchtet.“
Klaus betrachtete ein Projektil mit der Lupe. „9 x 19 Millimeter. Sechs Züge. Rechtsdrall.“ Er ging zum Bildschirm, betrachtete die Waffen ebenfalls durch die Lupe. Paul schüttelte den Kopf und sagte: „Ich kann zoomen“. Klaus beachtete ihn nicht. „Das sind Heckler & Koch MP5, nicht unbedingt üblich bei Banküberfällen.“
Johann nickte. „Die Ermittler haben keine anderen Überfälle gefunden, bei denen Tatablauf, Waffen und die spärlichen Täterbeschreibungen mit diesem übereinstimmen. Für die Zeugen hat es nach einem gezielten Anschlag auf Kleindienst ausgesehen. War der Banküberfall eine verdeckte Exekution? Diese These ist verworfen worden, weil das Opfer eine harmlose Krankenschwester war.“
Nyoko nahm die Strampelhose in eine Hand und ein Projektil in die andere. „Das gefällt mir nicht.“
Sie lehnte sich zurück, dachte an Friedrich und Sayo. Ein kleines Findelkind in der Rudolfstiftung. Die Finderin wenige Wochen darauf ermordet. Nyoko erinnerte sich an Ernst, der bei der Erwähnung des Schachspiels plötzlich hellhörig wurde.
„Das gefällt mir gar nicht.“
Samstag, 11. November 2017
Heinrich und Fidelio – sie nannten sich noch immer mit ihren alten IM-Namen, wenn sie sich heimlich trafen – spazierten durch den Wiener Türkenschanzpark. Im November konnte man sich hier ungestört unterhalten.
Heinrich zündete sich eine Zigarre an. „Friedrich hat herausgefunden, dass er ein Adoptivkind ist. Die Keystone Cops ermitteln jetzt in der Kindesweglegung.“
„Sind sie wirklich so gut, wie alle sagen?“, fragte Fidelio.
„Sie feiern regelmäßig spektakuläre Erfolge. Vor allem sind sie sehr kreativ und unberechenbar. Wir müssen etwas unternehmen.“
Fidelio blickte Heinrich wütend und entschlossen in die Augen. „Wir werden sie ablenken, stoppen, und wenn das nicht funktioniert, eliminieren.“
„Das Polizisten-Traumpaar wohnt übrigens gleich dort vorne ums Eck.“
„Das weiß ich doch.“
Sonntag, 12. November 2017
Im Café Steinitz - benannt nach dem großen Schachtheoretiker und ersten Weltmeister - stieg die Spannung. Das Finale der Vereinsmeisterschaft des SK Steinitz. Ingrid Pichler gegen Friedrich Michael Laurent. Friedrich war in der Regel ein sehr schneller Spieler. Diesmal kämpfte er gegen die Zeit. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er spielte seine Lieblingseröffnung, Benoni-Indisch, gegen jene Frau, die ihm vor Jahren diese Variante beigebracht hatte.
Friedrichs Gedanken waren beim 1. Buch Mose.