Träumen. Gottfried Wenzelmann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Träumen - Gottfried Wenzelmann страница 11
3.3 Carl Gustav Jung (1875–1961)
Die Traumtheorie C.G. Jungs15 ist vor dem Hintergrund und in Abgrenzung von Freuds Traumtheorie zu verstehen; Jung arbeitete ca. neun Jahre mit Freud zusammen, bis es 1912 zum Bruch zwischen den beiden kam. Dieser Bruch hat mehrere Gründe; führen wir uns die wesentlichen Unterschiede in der Traumtheorie beider vor Augen:
Während Freud sich vorwiegend für Träume kranker Menschen interessierte, waren für Jung die Träume Gesunder ebenso wichtig. Für Freud verhüllten Träume das Unbewusste, während sie für Jung dieses enthüllen; für ihn ist der Traum kein Bilderrätsel, sondern einer noch unbekannten Inschrift vergleichbar. Die Fixierung auf die Deutung von Symbolen sexueller Art konnte Jung nicht mitvollziehen. Die retrospektive, deduktive und kausale Orientierung in der Traumdeutung Freuds schloss für Jung das zielgerichtete, ein Fortschreiten ermöglichendes Potenzial von Träumen aus. Freuds radikale Abgrenzung von religiösen Fragestellungen in der Traumdeutung konnte Jung nicht übernehmen. Vor dem Hintergrund dieser Gegensätze sollen die wesentlichen Einsichten C.G. Jungs im Überblick skizziert werden:
Für den Begründer der analytischen Psychologie stand der Traum in Verbindung mit der Ganzheit des Menschen. Diese Ganzheit sah Jung in gesamtpsychischer Hinsicht im Selbst angelegt, das im Unbewussten eine verborgene Vorstellung, eine Idee des Menschen von sich selbst enthält. In der Entfaltung des Selbst findet der Mensch zu seiner Ganzheit; das ist für Jung der Prozess der Individuation, der vom Selbst initiiert wird. Der Traum stellt in dieser Sicht eine Brücke zwischen dem dar, was wir in unserem täglichen Leben sind, und dem, was wir von unserem Selbst her sein könnten. Er ist also, um mit Jungs Terminologie zu sprechen, eine Botschaft vom Selbst an das bewusste Ich.
Vom Selbst her wird auch einsichtig, warum Jung von der Selbstregulation der Psyche im Traum ausgeht. Der Traum kennt den Weg, weil er vom Selbst gesteuert wird. Damit ist dreierlei gegeben:
– Der Traum ist, vom Unbewussten her gesteuert, kompensatorisch zum Bewusstsein. Kompensatorische Träume bieten dem Träumer an, was seine Lebensorientierung ergänzt und ausgleicht.
– Der Traum bringt in vielfältigen Variationen die Potenziale der Träumenden ans Licht. Er weist auf das hin, was beim Träumer noch ungelebt ist und sein Leben bereichern könnte. Unter diesem Aspekt trägt der Traum zur Selbstfindung und Selbsterweiterung bei.
– Der Traum bildet nicht nur Probleme ab, sondern er ist häufig lösungs- und zielorientiert und damit final ausgerichtet.
In der kompensatorischen Förderung von Potenzialen und Lösungsorientierung entfaltet der Traum die Selbstheilungskräfte der Seele.
In seiner Traumtheorie hat C.G. Jung darauf hingewiesen, dass in Träumen häufig gegengeschlechtliche Anteile auftauchen. Animus bezeichnet laut Jung den männlichen Persönlichkeitsanteil der weiblichen Seele und Anima den weiblichen Persönlichkeitsanteil der männlichen Seele. Die Auseinandersetzung mit dem gegengeschlechtlichen Anteil soll zur bewussten Integration dieser Anteile führen.
Für die Traumdeutung nach Jung ist die Unterscheidung zwischen Persona und Schatten eine wichtige grundlegende Einsicht. Persona bezeichnet bei ihm die Seite unseres Wesens, die wir nach außen zeigen und die gesellschaftlich eher akzeptiert ist. Der Schatten beschreibt die oft ungeliebte Seite des eigenen Wesens, die uns peinlich ist; wir verstecken sie deshalb möglichst vor anderen und auch vor uns selbst. Wie sich die Schattenseiten in Träumen zeigen, werden wir in Abschnitt 4.5 sehen.
Eine weitere Unterscheidung, die Jung in der Traumdeutung eingebracht hat, ist die zwischen der sogenannten Objekt- und der Subjektstufe. Diese Deutungskategorien ermöglichen die Betrachtung eines Traumes aus zwei Perspektiven: Auf der Objektstufe repräsentieren Traumsymbole einen Bezug des Träumers zu Gegenständen der Außenwelt, auf der Subjektstufe repräsentieren die Traumsymbole Persönlichkeitsanteile des Träumers selbst. Auch diese Einsicht Jungs wird uns im Abschnitt 4.3 noch beschäftigen.
Für das Traumverständnis Jungs ist es schließlich wesentlich, auf seine Gedanken zu den von ihm so genannten Archetypen einzugehen: Archetypen sind für ihn Urbilder wie z. B. der alte Weise, die große Mutter oder auch Gott, die in Mythen, Märchen und in Religionen auftauchen. Wenn diese im Traum erscheinen, spricht Jung von einem archetypischen Traum oder auch einem „Individuationstraum“, der einen Bezug zu den Kulturgütern der Menschheit aufweist. Solche Träume leisten nach dem Dafürhalten Jungs einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der träumenden Persönlichkeit und sind seiner Meinung nach mit einem richtungsweisenden Sinn verbunden. Zur Erschließung des mythologischen Gehalts von Träumen regte er die „Amplifikation“ an, die nach den Assoziationen der Träumenden zu ihrem Traum aus der Literatur, aus Theaterstücken, aus Märchen, der Kunst oder der Bibel fragt oder diese vonseiten des Therapeuten einbringt.
In Verbindung mit den Archetypen unterschied Jung das dynamisch persönliche Unbewusste und das sogenannte kollektive Unbewusste. Während das persönliche Unbewusste die persönlichen Erfahrungen der Träumenden aufnimmt, sind im kollektiven Unbewussten überpersönliche Erfahrungen des „objektiv Psychischen“ gespeichert, die für Jung in jeder Kultur existieren und dem Menschen angeboren sind. Letztere beruhen auf der Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gattung Mensch, zu bestimmten Gesellschaften und Kulturen mit ihrem allgemein menschlichen Wissen über den Menschen.
Wie ist nun die Traumtheorie C.G. Jungs zusammenfassend zu beurteilen?
Die Traumtheorie C.G. Jungs lässt sich in vielen Punkten als genial bezeichnen. Er hat viele der Engführungen Sigmund Freuds in der Traumdeutung überwunden. Die Unterscheidungen zwischen Persona und Schatten, Animus und Anima, Subjekt- und Objektstufe tragen häufig zu einem differenzierten Verstehen von Träumen bei. Die Kategorien Potenzialität, Komplementarität und Finalität machen die Beschäftigung mit Träumen in hohem Maße fruchtbar. Das alles wird später noch differenzierter zu bedenken sein.
Die Grenzen des jungschen Traumansatzes sehe ich in dreierlei Hinsicht:
– Zum einen ist seine Lehre zu den Archetypen zu hinterfragen. Jung sieht in ihnen universale Grundmotive, die in der Gehirnstruktur vererbt würden. Trotzdem ist festzuhalten, dass diese aus Kultur, Literatur und Religionen erschließbaren Symbole und Motive bestenfalls so etwas wie ein Vorschlag sein können. Ein Traum ist immer zuerst eine persönliche Botschaft an die träumende Person. Die Gefahr bei Jungs Umgang mit Archetypen besteht darin, dass ein „objektiver Deutungssinn“ den subjektiven verdrängt; so kann es zu einer Fremdbestimmung der träumenden Person durch den Begleiter und sein archetypisches Denksystem kommen.
– Zum andern trägt das, was Jung zu den Archetypen und zu archetypischen Träumen sagt, zuweilen zu einer Mystifizierung und Verkomplizierung von Träumen bei. Indem er transkulturelle, religiöse und auch okkulte Zusammenhänge einbezieht, geschieht eine Öffnung in Bereiche hinein, die weltanschaulich nicht mehr neutral zu sehen sind.
– Schließlich geht aus der Traumtheorie Jungs hervor, dass er dem Einfluss fernöstlicher Religionsphilosophie näher steht als dem christlichen Glauben. Das zeigt sich deutlich in der geradezu religiösen Aufladung des menschlichen Selbst. Die Verwirklichung dieses Selbst geschieht nicht in der sich abgrenzenden Individualität, sondern durch Auflösung in ein alles umspannendes Sein. Je mehr der Mensch sein Bestreben aufgibt, er selbst sein zu wollen, umso mehr wird er es in einer Alleinheit erleben. Die religiöse Gedankenwelt C.G. Jungs und seiner Schule wird uns noch im Abschnitt 6.4. beschäftigen.
3.4