Träumen. Gottfried Wenzelmann
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Neurophysiologisch betrachtet kann man das Gedächtnis als einen dynamischen Zustand von elektrisch messbarer Aktivität verstehen. Träumen führt zu Veränderungen dieses Zustandes, indem funktionelle Verknüpfungen aktiviert oder neu geschaffen werden. Die biologische Basis ist der Transfer von elektrischer Aktivität zwischen den Nervenzellen. Träumen (und Entsprechendes gilt auch für das Lernen) bewirkt eine Veränderung der elektrischen Potenziale des Gehirns. Diese Änderungen können von langer Dauer sein, sind aber zugleich auch veränderbar. Das Gehirn befindet sich demnach – und das gilt auch für die Gehirnaktivität beim Träumen – auf der einen Seite in einem Zustand von relativ hoher Konstanz, auf der anderen Seite kommt es kontinuierlich zu Neuverschaltungen in den Synapsen. Darin ist begründet, dass es bis ins hohe Alter möglich ist, zu lernen.
Veränderung ist einerseits Zuwachs an Neuverschaltungen in den Synapsen, andererseits bedeutet sie Umbau vorhandener Verschaltungen. Durch neue neuronale Verknüpfungen findet im Gehirn während des Schlafs eine sukzessive Umorganisierung statt. Das Träumen verändert also das Gehirn, und diese Veränderung hat wiederum Auswirkungen auf das Träumen. Solche Veränderungen geschehen das ganze Leben lang. Allerdings geschehen sie sehr langsam. Aus diesen Einsichten ergibt sich für das Verständnis der Funktion von Träumen, dass sie als eine besondere Form des Lernens zu sehen sind, die das Gedächtnis sukzessiv modifiziert.
Für das Verstehen der Bedeutung unserer Traumfähigkeit ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gedächtnisaktivitäten wichtig:
– das prozedurale (auch „implizite“) oder „Prozessgedächtnis“
– das deklarative (auch „explizite“) oder „Inhaltsgedächtnis“.
Das prozedurale Gedächtnis enthält Wissen über das Wie von Informationen, das deklarative über das Was. Beim Träumen werden zwar beide Arten von Informationen aufgerufen, es überwiegen jedoch diejenigen des impliziten Prozessgedächtnisses. Der Traum interessiert sich sozusagen mehr für die Informationen über das Wie, also den Modus von Erfahrungen, Handlungen und Beziehungen. Diese Informationen sagen uns, „wie etwas geht“ oder wie man etwas macht, zum Beispiel wie man lernt, spricht oder sich in Beziehung setzt. Dieses „selbstverständliche“ Wissen haben wir uns irgendwann zum Teil in frühester Kindheit angeeignet und wissen doch nicht, wo und wie. Das implizite Gedächtnis arbeitet nicht begrifflich, sondern es ist in somatisch-affektiven Zuständen strukturiert. In ihm lagert auch der wesentliche Teil des Beziehungswissens, das durch frühe Entwicklungsprozesse und Bindungserfahrungen mit den Eltern angelegt ist. Beim Träumen ist das gesamte limbische System mit der Amygdala hoch aktiv. Darin liegt, neurologisch betrachtet, der grundlegende Bezug des Traumes zur Emotionalität begründet. Diese Regionen sind unter anderem für die Basisemotionen wie zum Beispiel Lust, Wut, Furcht, Panik verantwortlich.
Was sagen diese Einsichten über die Bedeutung unserer Fähigkeit zu träumen? Die neurobiologische Funktion der Träume ist in zweifacher Hinsicht zu bestimmen:
Zum einen besteht der wesentliche Nutzen der Träume in der Steigerung der Lern- und Gedächtnisleistung. Schlaf und Traum haben Bedeutung für die Lernfähigkeit und die Gedächtnisbildung. Während des Tages Gelerntes wird nur im Schlaf sicher ins Langzeitgedächtnis überführt und damit wirklich dort integriert. Der Hippocampus, der vielfältig mit dem unser Denken ermöglichenden Kortex verknüpft ist, aktiviert im Schlaf die tagsüber gelernten Inhalte und leitet sie an die Hirnrinde weiter. In dieser internen Nachverarbeitung werden die im Hippocampus nur temporär bewahrten Engramme in den Langzeitspeicher des Kortex überführt. Zugleich werden dabei nicht mehr benötigte Daten gelöscht, was zur Entlastung des Gedächtnisspeichers führt. Spitzer drückt es bildhaft aus: „Der Hippocampus fungiert im Schlaf als Lehrer des Kortex.“11
Zum andern besteht der Nutzen des Traumes in der emotionalen Neubewertung und Bearbeitung von bereits bestehenden Inhalten. Im Traum können Informationen aus ganz verschiedenen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbereichen miteinander neu verknüpft werden. Im Schlaf und Traum herrscht daher eine andere Logik und eine andere Affektivität als im Wachen, die uns nach dem Aufwachen häufig fremd erscheinen. Weil im Traumzustand andere Informationen zugänglich sind, die im Wachzustand nicht zur Verfügung stehen, entwickelt das Gehirn im Traum andere Verarbeitungsstrategien als im Wachzustand. Alte und neuere negative affektgeladene Erfahrungen werden auf diese Weise zur „Wiedervorlage“ gebracht, verarbeitet und gespeichert. Dabei werden neue Zusammenhänge innerhalb des vorhandenen Wissens und Sinngebungen von Erfahrungen möglich und zugänglich. In solchen Prozessen können Kindheitserinnerungen mit gegenwärtigen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Der Schlafende kann auf diese Weise über einen längeren Zeitraum seine Biografie mehrmals durchgehen. Diese Einsicht ist für die Verarbeitung von psychischen Verletzungen und traumatischen Erfahrungen bedeutsam: Träume sind dafür heilsam und lebensnotwendig. Außerdem können so zukünftige Handlungsmuster und -varianten, Entwicklungsrichtungen der Persönlichkeit und schöpferische Ideen entstehen. Neues kann in diesem Prozess zum Vertrauten werden. Von daher kann man das Träumen mit gutem Grund als Gedächtnisarbeit im Schlaf bezeichnen, in dem wichtige Lernprozesse ablaufen. So trägt der Traum dazu bei, die Anpassung an neue Situationen zu verbessern, psychisches Wachstum zu fördern und weitergehende Entwicklungsschritte zu ermöglichen.
Das eine oder andere Ergebnis, das das nächtliche Kopfkino in den vielschichtigen neuronalen Prozessen im Traum hervorbringt, kann und will im Wachzustand fruchtbar werden, indem es vom Bewusstsein aufgegriffen wird. Das soll in den kommenden Abschnitten entfaltet werden.
3.
Verschiedene Wege der Traumdeutung
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Träumen hat vor über hundert Jahren begonnen. Das heißt jedoch nicht, dass die Jahrhunderte davor Träume nicht beachtet worden wären – ganz im Gegenteil. Was all den älteren Traumlehren gemeinsam war, ist ihr zumeist überindividueller Ansatz; das wird uns noch in Abschnitt 6.1 beschäftigen. Sie alle betrachten Träume als Ausdruck transzendenter, schicksalhafter oder mystischer Kräfte. Man sah die Träumenden als Sprachrohr jenseitiger oder überzeitlicher Botschaften. Mögliche individuelle Motive wurden selten in den Blick genommen, weil sie als nicht relevant angesehen wurden. Das Gemeinsame der überindividuellen Traumtheorien ist, vereinfacht formuliert, dass die Träume gleichsam ohne den Träumer gedeutet wurden.
Unter Punkt 1.2 wurde dargelegt, dass ein seelsorglicher Umgang mit Träumen in psychologischer und theologischer Hinsicht sachgerecht sein soll. Soll er in psychologischer Hinsicht sachgerecht sein, muss er die psychologischen Ansätze im Umgang mit Träumen in den Blick nehmen. Dies soll in den folgenden Abschnitten geschehen, indem eine kurze Darstellung der prägenden Schulen gegeben wird. Es kann dabei nur um eher skizzenhafte Einblicke in die Kernanliegen einiger prägender Ansätze gehen, um beispielhaft mitvollziehbar zu machen, welche Ansätze hinter dem hier vorgestellten Umgang mit Träumen stehen.
3.1 Sigmund Freud (1856–1939)
Freud steht für die älteste und damit längste Tradition der modernen professionellen Beschäftigung mit Träumen.12 Er blickte als Arzt auf den Traum und nahm ihn vorwiegend in seinen Bezügen zur seelischen Krankheit wahr. Das Verständnis der Träume ist bei Freud Teil des von ihm entwickelten Gesamtkonzeptes der Psychoanalyse. In diesem Gesamtrahmen stellte er die Entstehung, Funktion und Bedeutung von Träumen auf eine theoretische Grundlage.
Freud war der Ansicht, dass der Ursprung der Träume die halluzinatorische