Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
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»Na – wir wollen einmal sehen«, sagte der Regierungsrat.
Sie fiel ihrem Vater um den Hals und küsste ihn stürmisch.
»Du Wirbelwind«, bemerkte er zärtlich, ihr die Wangen klopfend. »Und das nennt sich alte Jungfer!«
Agathe hatte die schönsten Erwartungen. Nein – so grausam – so grausam konnten die Eltern nicht sein … sie würden ihr schon den Wunsch erfüllen!
Auf ihrem Weihnachtstisch fand sie ein reizendes Jabot aus rosa Krepp – sie hatte es einmal in einem Schaufenster bewundert – und einen Prachtband mit bunten Bildern: die Flora von Mitteldeutschland, zum Gebrauch für unsere Töchter, – daneben eine geschnitzte Blumenpresse.
»Siehst Du, liebes Kind«, sagte ihr Vater freundlich, »hier habe ich ein sehr hübsches Werk gefunden, das besser für Dich passt, als die Bücher, die Du da aufgeschrieben hast. Ich blätterte in den Sachen – sie wollten mir gar nicht für mein Töchterchen gefallen. Hier findest Du eine Anweisung, wie man Blumen trocknet – daraus fabriziert Ihr ja jetzt allerliebste Lichtschirme! Das wird Dir auch Spaß machen!«
Agathe sah stumm vor sich nieder. Sie musste an den Herwegh denken, den man ihr einst gegen die fromme Minne eingetauscht … Wiederholte sich denn jedes Ereignis immer aufs neue in ihrem Leben? Und würde sich’s nach zehn Jahren ebenso wiederholen?
Entwickelten sich denn alle Wesen in dieser Welt zu höheren Daseinsformen und nur sie und ihresgleichen blieben davon ausgeschlossen? Sie war »das junge Mädchen« – und musste es bleiben, bis man sie welk und vertrocknet, mit grauen Haaren und eingeschrumpftem Hirn in den Sarg legte –?
Wusste denn keiner, dass es grausam war, eine Blume, die nach Entfaltung strebte, durch ein seidenes Band zu umschnüren, damit sie Knospe bleiben sollte. Wusste keiner, dass sie dann im Innern des Kelches verrottete und faulte?
Jedes Mal, wenn Agathe durch ihres Vaters Zimmer ging und ihr Blick den Bücherschrank streifte, der nun verschlossen war, stieg heißer Zorn gegen ihren Vater in ihr auf.
Er wusste ja nicht, was er tat, dachte sie, um ihn gegen sich selbst zu verteidigen.
Täglich nahm er sie in den Arm und küsste sie, des Morgens und des Abends – aber was sie ihr Leben lang empfunden und durchgerungen, davon ahnte er nichts. Wie zart und geübt, wie gütig und geschickt hätte die Hand sein müssen, der es gelungen wäre, die dunklen Instinkte, die gährenden Gewalten, die in verschwiegenem Kampf sie zerwühlten, bis in die Form des Wortes herauszulocken.
X.
Onkel Gustav war gestorben. Mama hatte ihn heute Morgen tot im Bett gefunden – fast in derselben Stellung, in der sie ihn am Abend zum Schlaf zurechtgelegt hatte. Er war sehr leidend gewesen in der letzten Zeit, aber der Arzt versicherte stets, er könne bei der guten Pflege noch Monate, ja noch Jahre leben. Mama und Agathe saßen still zusammen und flochten an einer Guirlande. Frau Heidling reichte ihrer Tochter kleine Sträuße von Grün und Blumen, aber sie machte es oft ganz verkehrt. Beide sahen müde und abgezehrt aus – besonders Mama konnte sich kaum noch aufrecht halten. Ihre Kräfte waren durch die Anforderungen des Kranken bis auf den letzten Rest verzehrt.
Was sie und Agathe sich auch ausdachten an guten stärkenden Bissen – nichts hatte ihm geschmeckt. Verdrießlich schob er den Teller zurück und erzählte von diesem oder jenem Hotelkoch, der gerade das eine Gericht so wunderbar schön zu bereiten verstand. Beständig wollte er unterhalten sein und unterbrach doch meistens die Bemühungen seiner Nichte mit der trübseligen Bemerkung: »Ach, Kind – das interessiert mich ja gar nicht!« Für nichts auf der Welt empfand er Teilnahme. Es war fast noch ein Glück zu nennen, dass die Pflege seines Körpers viele Stunden des Tages ausfüllte, denn sauber und appetitlich blieb »die Kirschblüte«, wie Onkel Gustav bei Agathes Freundinnen genannt wurde – bis zuletzt. Freilich sank die arme Mama, die dem alten, schwachen Herrn allein bei der Toilette helfen durfte, immer halb ohnmächtig vor Ermattung hinterher aufs Sofa.
Nun war der große Lehnstuhl am Fenster, in dem Onkel Gustav, mit einem langen, grauen Schlafrock bekleidet, ein halbes Jahr hindurch gesessen, leer geworden. Auf dem Tisch lag seine hübsche blonde Perrücke, ohne die er sich der Nichte niemals gezeigt hatte.
Die Angehörigen sprachen wehmütig über das Leben, das so still zerronnen. Frau Heidling erzählte von der strahlenden Jugendblüte ihres Schwagers. Zu der Zeit habe man gemeint, es könne ihm an Erfolg nicht fehlen. Jeder habe ihm eine reiche Heirat prophezeit.
Der Regierungsrat ging ernst im Zimmer auf und nieder.
»Das war sein Unglück«, bemerkte er, stehen bleibend. »Gustav stellte seine Hoffnung und seine Pläne auf die Frauen, statt auf sich selbst. Dabei konnte natürlich nur ein verfehltes, törichtes Leben herauskommen. Man soll von den Toten ja nichts Übles reden – aber was hat die menschliche Gesellschaft, was er selbst von seiner Existenz gehabt? – Keine Pflichten – kein Beruf – kein Streben nach eigener Vervollkommnung … Nur immer die Frauen – die Frauen! Schließlich haben die Frauen ihn auch nur genarrt!«
Der Regierungsrat schwieg – vor Agathe durfte man den ferneren Gedankengang nicht gut laut werden lassen.
Agathe nahm ihre Guirlande und trug sie hinüber in das Sterbezimmer, wo der gute Onkel im Sarge lag. Mit leisen, vorsichtigen Bewegungen schlang sie das Grün um sein weißes Kissen. Wie er zusammengefallen war, nun man ihm auch die falschen Zähne herausgenommen hatte. Ein sehr alter Mann – und doch hatte er noch nicht die Sechzig erreicht.
Niemand grämte sich über seinen Tod – auf der weiten Welt niemand – die Frauen hatten ihn nur genarrt.
Wer wird sich einmal um sie grämen? Niemand – auf der weiten Welt niemand. Die Liebe hatte sie auch nur genarrt.
*
Bei Onkel Gustavs Begräbnis holte Mama sich eine Erkältung, und nun brach sie vollends zusammen.
Das war eine andere Pflege, als die von Onkel Gustav. Schlaflose Nächte – wochenlang