Angela Autsch. Annemarie Regensburger
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Am Abend des nächsten Tags steht die Familie vor ihrer neuen Unterkunft. Es ist ein altes, strohbedecktes Bauernhaus ganz unten am Bach. Sozialer Aufstieg ist es keiner, denn im Haus wohnen noch zwei weitere Familien. Nach dem anfänglichen Schrecken der bereits erwachsenen Kinder über diese einfachen Wohnverhältnisse hält der 13-jährige Franz gleich Ausschau, ob es bei den zwei Familien auch Buben gibt. Doch bald lebt sich die Familie ein. Hauptsache ist, dass der Vater bei der Bahn untergekommen ist.
Am Wochenende kommt Marie zum ersten Mal mit dem Zug nach Heinsberg. Obwohl es schon Mitte April ist, ist es am Bach kühl, feucht und schattig.
„Mama, du musst hier sehr gut mit deinem Rheuma und deinen Herzproblemen auf dich aufpassen. Heize dir immer den Herd in der Küche ein“, sind die ersten Worte von Marie, als sie ihre schmächtige Mama sieht.
„Es geht schon, Marie. Wir können auf der Anhöhe einen Acker für den Gemüseanbau verwenden. Dort ist es sehr sonnig. Es wird mir guttun.“
Marie erzählt, dass sie bei einem Werkmeister der Firma Bischoff/Brögger ein Zimmer gemietet hat:
„Mama, dort gibt es auch zwei Mädchen. Sie sind sehr nett zu mir. Auch ihre Mama ist freundlich. Ich fühle mich sehr wohl.“
Marie verschweigt, dass sie nun abends nach der Arbeit wieder länger Frau Brögger hilft, denn nach der Geburt ihres fünften Kindes ist sie sehr geschwächt. Theresia braucht ebenfalls noch den Beistand von Marie, da sie als Älteste in der emotionalen Zuwendung oft zu kurz kommt. Wenn Marie am Wochenende nicht nach Heinsberg fährt, gönnt sie sich am Sonntag ab und zu eine Radtour rund um Finnentrop. Nach dem Sonntagsgottesdienst kann sie so für die Arbeitswoche auftanken.
An einem wolkenlosen Sommersonntag hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich:
„Marie? Du bist doch Marie aus unserer Klasse. Schau, ich habe mir ebenfalls ein Fahrrad gekauft.“
Der junge Mann ist inzwischen neben Marie angekommen und lacht:
„Ja, klar. Du bist die Marie, du hast ein ganz schönes Tempo darauf.“
Beide begrüßen einander und lachen, weil sie sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben. Eine Weile fahren sie lachend und schwatzend nebeneinander her. Bei einer Kreuzung trennen sich ihre Wege.
„Sehen wir uns wieder, Marie?“
„Ja, vielleicht. Es war eine feine Radfahrt mit dir.“
Dann, im Spätherbst, gibt es nur noch ein Thema in der Firma, in der Marie ihre Lehre absolviert, und zwar, dass der Krieg bald zu Ende sei. Auch ist bis Finnentrop durchgedrungen, dass die Marinesoldaten auf verschiedenen Schiffen den Aufstand proben und nicht mehr die Befehle ihrer Oberen ausführen wollen. Marie bekommt Angst um ihren Bruder und betet noch mehr als sonst, dass die Gottesmutter ihn und alle beschützen möge, damit nicht viele noch unnötig sterben müssen.
Am 11. 11. 1918 beendet der Waffenstillstand von Compiègne den Ersten Weltkrieg. Mit 17 Millionen geschätzten Toten war es bis dahin der tödlichste Konflikt aller Zeiten. Annähernd 70 Millionen Menschen standen unter Waffen. Allein im kleinen Dorf Bamenohl sind 35 Männer gefallen und viele kehren als Verwundete zurück. Welche seelischen Schäden die Kriegserlebnisse angerichtet haben, lässt sich wohl nicht erfassen. Auch konnten die Heimkehrer die Schande, dass der Krieg verloren war, nur schwer überwinden. Von „großer Not“ und „drückender Sorge“ schrieben die Zeitungen. Was Frauen und Kinder der Heimgekehrten ertragen mussten, bis wieder ein einigermaßen gutes Zusammenleben möglich war, steht in keiner Chronik.
Als August knapp vor Weihnachten heimkehrt, erzählt er seinen Freunden stundenlang von seinen Eindrücken beim Kieler Matrosenaufstand. Daheim redet er nur spärlich davon, denn er will vor allem die Mama nicht beunruhigen.
Der Kieler Matrosenaufstand fand kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges statt. Auslösender Moment waren Befehlsverweigerungen auf einzelnen Schiffen der vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte. Etliche Matrosen und ihre Offiziere sahen den am 24. Oktober erlassenen Flottenbefehl, zu einer Entscheidungsschlacht gegen die britische Marine auszulaufen, als militärisch sinnlos an. Dies mündete in einer Meuterei mehrerer Schlachtschiffbesatzungen. Das Dritte Geschwader der Flotte wurde daraufhin nach Kiel zurückbeordert. In Kiel trat die Arbeiterschaft an die Seite der Matrosen. Es kam zu einem allgemeinen Aufstand. Von Kiel aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben, die dann zur Novemberrevolution und somit zum Ende der Monarchie in Deutschland und in Folge zur Errichtung der Weimarer Republik führten.2
Irgendwann erzählt August seiner Schwester Marie, zu der er immer noch ein großes Vertrauen hat, dass er auch zu den Befehlsverweigerern gehört hat. Marie antwortet ihm in der ihr eigenen einfachen und klaren Sprache:
„August, das war doch gut so. Sonst wären noch viele tausend Seeleute gestorben und vielleicht auch du.“
August ist dankbar über diese Worte von Marie, denn Befehlsverweigerung ist bei vielen, die zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten erzogen wurden, ein Verbrechen.
Die Jahre des Wiederaufbaus sind sehr schwierig. Die Firma Bischoff/Brögger übersteht aber die Wirtschaftskrise und Marie trägt in dieser Zeit sehr zum Unterhalt ihrer Familie bei. So oft es ihr möglich ist, fährt sie an den Wochenenden nach Heinsberg, um der Mama und Gertrud zu helfen. Dadurch, dass sie die Mutter nicht jeden Tag sieht, fällt ihr viel stärker auf, dass diese immer schwächer wird. Irgendwann bemerkt sie auch Mamas geschwollene Beine und macht ihren Vater darauf aufmerksam. Endlich begibt sich Amalia in ärztliche Behandlung und spürt eine leichte Besserung. So kann sie sich auch auf die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Elisabeth mit Anton Balzer freuen. Es ist ein wunderbarer Tag, an dem die ganze Großfamilie bei der Hochzeit zusammenkommt. Inzwischen ist ja nicht nur August erwachsen, sondern auch alle vier Töchter. Die beiden Jüngsten Wilhelm und Franz sind 18 und 14 Jahre alt. Die Eltern sind dankbar, dass August gesund vom Krieg heimgekehrt ist und nun die älteste Tochter einen neuen Weg einschlägt. Am Abend, bei der Verabschiedung, sagt Marie zu ihrer Schwester:
„Du weißt ja, was ich dir an meinem Erstkommuniontag anvertraut habe. Doch ich habe mein Versprechen an Jesus noch nicht umgesetzt, aber ich weiß, dass ich nicht heiraten, sondern, wenn die Zeit dafür reif ist, ins Kloster gehen werde. Ich wünsche dir viel Glück und dass es dir mit Anton gutgeht.“
Zwei Wochen später fahre ich mit einer Freundin nach Mödling. Wir steigen vom Zug aus und rufen uns ein Taxi.
„Trinitarierinnenorden, hier in Mödling?“
Noch nie hat der Taxifahrer von diesem Orden gehört.
„Wollen Sie nach St. Gabriel?“
„Nein, zu den Trinitarierinnen. Drei Schwestern leben noch im Kloster.“
Irgendwann fällt uns ihre Anschrift ein: Husarentempelgasse 4.
„Ah, da hinaus wollen Sie fahren. Ja, diese Gegend kenne ich.“
Wir fahren bei schönen Villen vorbei, hinaus aus der Stadt. Herbstlich bunte Laubwälder säumen die Straße. Mödling ist Ende Oktober in Gold getaucht. Dann, ein offenes Tor, wir fahren die Auffahrt hinauf und stehen vor einem alten Ansitz, vermutlich noch aus der Kaiserzeit. Später erfahre ich, dass dieser