Angela Autsch. Annemarie Regensburger
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„Aber Marie, ich bin noch nicht einmal 50 Jahre alt und fühle mich schon so verbraucht.“
„Amalia, du hast so viel geleistet und machst immer noch viel. Ich werde mit Gertrude reden, damit sie noch ein bis zwei Jahre daheim bleibt, um dir zu helfen“, meint August. Dankbar sieht Amalia ihren Mann an.
Auch Marie versucht, ihre Mutter zu trösten: „Ich werde am Abend auch wieder pünktlicher heimkommen. Heute hat mich Herr Brögger gefragt, ob ich, wenn mit dem Baby alles gut geht, bei ihm im Geschäft eine Lehre als Verkäuferin anfange. Sie nehmen dann ein anderes Kindermädchen.“
Die Eltern freuen sich darüber und die Mama sagt:
„Marie, du bist begabt und liebenswert. Einen Lehrberuf zu erlernen ist für ein Mädchen schon etwas Besonderes. Doch nun sagen wir Gott danke für alles und gehen schlafen.“
Am 15. April 1915 beginnt Marie ihre Lehre. Vorher muss sie Theresia versprechen, dass sie in der Mittagszeit immer in die Wohnung kommt. Frau Brögger drückt ihr auch noch schnell das Baby in den Arm und sagt:
„Ja, Marie, du isst bei uns zu Mittag, die Kinder mögen dich so gerne und das Baby soll dich ja auch kennenlernen.“
Marie bedankt sich, läuft die Treppe hinunter und betritt zum ersten Mal die Firma Bischoff/Brögger.
Ich sitze am Schreibtisch
draußen fällt Schnee
mein Blick fällt
auf das Bild
von Schwester Angela
auf meinem Schreibtisch –
ich stelle mir vor
wie sie zum ersten Mal
die vielen Kleider
im Geschäft sah –
ein junges Mädchen
aus einfachem Haus
mit viel Liebe
für die Menschen
in ihrem Innersten
eine tiefe Sehnsucht
Herr Brögger stellt Marie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor und sagt:
„Das Fräulein Marie fängt heute bei uns die Verkäuferinnenlehre an. Ich bitte Sie, ihr wohlwollend zur Seite zu stehen und ihr alle notwendigen Dinge zu erklären. Sie war ein halbes Jahr zur vollsten Zufriedenheit unser Kindermädchen. Also, viel Glück bei uns, Marie!“
Die Mitarbeitenden reichen Marie die Hand. Mit ihrem warmen Lächeln findet sie sofort Zutrauen. Eine langjährige Mitarbeiterin führt sie durch das Geschäft und die Lagerräume. Marie ist überrascht von der Größe des Betriebes. Noch nie hat sie so viele Kleider und Anzüge gesehen.
Eine spannende Zeit beginnt. Durch ihr liebenswertes, fröhliches Wesen ist sie sowohl bei Kolleginnen und Kollegen als auch bei der Kundschaft beliebt.
Marie freut sich jeden Tag auf die Mittagszeit. Theresia empfängt sie bereits an der Wohnungstüre und erzählt Marie ihre Fortschritte, aber auch ihre kleineren und größeren Probleme mit ihren Freundinnen. Auch Theresias kleinere Geschwister machen ihre Späße mit Marie. Bald streckt ihr auch das Baby seine Ärmchen entgegen.
Gegen Ende ihrer Lehrzeit erfüllt sich Marie ihren lang gehegten Wunsch und kauft sich ein Fahrrad. Laut singend fährt sie am Abend von Finnentrop nach Bamenohl. Ihre zwei jüngeren Brüder, die inzwischen 17 und 13 Jahre alt sind, sehen Marie schon von weitem und laufen ihr entgegen. Das ist ein Hallo! Gleich wollen sie das Radfahren ausprobieren. Doch Wilhelm stürzt mit dem Fahrrad und schürft sich die Hände auf. Auch bei Franz gelingt das Fahren nicht sofort. Lachend kommen alle drei zum Haus. Inzwischen ist Amalia ebenfalls im Dienst. Nur Gertrud ist daheim geblieben, da sich Mamas Gesundheitszustand immer mehr verschlechtert hat.
Beide kommen vors Haus und bewundern das Fahrrad von Marie.
„Stellt euch vor, Herr Brögger hat mir die Hälfte bezahlt, weil ich trotz meines Berufes immer bei seinen Kindern aushelfe und ihnen, bevor ich heimfahre, Geschichten erzähle“, sprudelt es aus Marie heraus.
Inzwischen ist Frau Brögger mit dem fünften Kind schwanger. Auch wenn es am Abend bei der Familie noch viel zu tun gäbe, nimmt sich Marie vor, jetzt mit dem Rad früher nach Hause zu kommen, und sagt das auch Mama und Gertrud.
Die Mama schüttelt zweifelnd den Kopf.
„Mama, was ist?“, fragt Marie.
„Der Vater kommt jetzt bald nach Hause und will mit uns reden.“
Fast wäre die Freude über Maries neues Fahrrad verflogen, denn alle spüren, dass es etwas Ernstes sein muss, was der Vater zu besprechen hat. Marie wagt noch eine Frage:
„Mama, ist etwas mit August?“
Die Mama schüttelt den Kopf und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.
Inzwischen sind die großen Schwestern und der Vater von der Arbeit heimgekommen. Ein betretenes Schweigen macht sich um den Küchentisch breit. Nach dem gemeinsamen Tischgebet und dem einfachen Abendessen räuspert sich der Vater und sagt:
„Ihr wisst, dass der Steinbruch bereits seit zwei Jahren offiziell geschlossen ist und ich trotzdem bis jetzt weiter dort arbeiten konnte. Doch nun ist es damit vorbei. Durch den langen Krieg gibt es praktisch keine Aufträge mehr und die Firma wird nun ganz geschlossen. Die Mitarbeiter werden alle abgebaut.“ Der Vater kämpft mit den Tränen, als er sagt:
„Wir müssen bis Anfang April unser Haus aufgeben und wir werden nach Heinsberg ziehen.“
„Aber warum müssen wir so weit wegziehen?“, rufen alle durcheinander.
Die Mama mischt sich ins Gespräch ein und sagt:
„Ihr wisst ja, dass ich von Heinsberg stamme. Wir haben dort auch schon ein paar Mal Verwandte besucht. In Heinsberg finden wir leichter eine Unterkunft und der Vater eine Arbeit.“
„Dann sehen wir uns nur noch an meinen freien Tagen“, wirft Elisabeth, die in Bamenohl arbeitet, ein.
„Und ich habe mir ein so schönes Fahrrad gekauft. Ich wollte damit jeden Morgen nach Finnentrop und am Abend wieder heimfahren“, sagt Marie traurig.
„Wir haben keine andere Wahl“, erwidert der Vater. „Ich habe mich bereits erkundigt und bekomme sehr wahrscheinlich bei der Bahn eine Arbeit. Eine Wohnung habe ich ebenfalls in Aussicht.“
Ein geschäftiger Monat beginnt. Durch die viele Arbeit, die das Auflösen des Haushaltes mit sich bringt, bleibt wenig Zeit für Traurigkeit. Marie kommt jeden Abend etwas früher mit dem Fahrrad heim und hilft beim Zusammenpacken. Schnell ist der 3. April 1918 da.