David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens

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      Am ersten Sonntag seiner Verhaftung sollte ich ihn besuchen und bei ihm essen. Ich sollte mich erst bis nach einem Platz durchfragen, dann sollte ich kurz vorher in eine Straße einbiegen, dann würde ich einen Hof sehen, ihn quer überschreiten und immer geradeaus gehen, bis ich zu dem Gefangenwärter käme. Das tat ich alles nach Vorschrift. Als ich endlich den Gefangenwärter fand (ich armes kleines Bürschchen!), dachte ich daran, als Roderick Random im Schuldgefängnis saß, sei ein Mann dort gewesen, der nichts angehabt hätte als eine alte wollene Decke, und ich konnte zuletzt den Schließer nicht mehr sehen, wegen meiner überströmenden Augen und wegen meines klopfenden Herzens.

      Mr. Micawber wartete auf mich hinter dem Einlaßpförtchen, und wir gingen hinauf in sein Zimmer im vorletzten Stock unter dem Dache und weinten dort sehr. Er beschwor mich feierlich, an seinem Schicksal ein Beispiel zu nehmen und nie zu vergessen, daß ein Mann von zwanzig Pfund Jahreseinkommen glücklich ist, wenn er neunzehn Pfund neunzehn Schilling und sechs Pence verausgabt habe, daß er sich aber zugrunde richtet, wenn er einen Schilling mehr verzehrt. Darauf borgte er mir einen Schilling zu Porter ab, gab mir eine geschriebene Anweisung an Mrs. Micawber für den Betrag, steckte sein Taschentuch ein und wurde wieder seelenvergnügt.

      Wir setzten uns vor ein kleines Feuer, das, um Kohlen zu sparen, zwischen zwei Ziegelsteinen in dem verrosteten Feuerloch brannte, bis ein anderer Schuldgefangener, Mr. Micawbers Stubengenosse, mit einer gebratenen Schöpskeule vom Backhause kam, die unser gemeinschaftliches Mittagsmahl abgeben sollte. Dann erhielt ich den Auftrag, zu Kapitän Hopkins in die Stube über uns zu gehen, mit vielen Komplimenten von Mr. Micawber, und ich sei sein junger Freund und bäte Kapitän Hopkins um die Gefälligkeit, mir Messer und Gabel zu leihen. Kapitän Hopkins lieh mir Messer und Gabel mit vielen Komplimenten an Mr. Micawber. In seiner kleinen Stube fand ich noch eine sehr schmuddelige Frau und zwei blasse Mädchen, seine Töchter, mit ganz zerrauften Haaren. Mir kam es vor, als ob es besser sei, Kapitän Hopkins' Messer und Gabel, als Kapitän Hopkins' Kamm zu borgen. Der Kapitän selbst befand sich im letzten Stadium verkommener Schäbigkeit mit seinem unverschnittenen und ungekämmten Backenbart und einem alten braunen Überrock, ohne anderes Unterkleid. Ich sah, daß sein Bett in einer Ecke zusammengerollt lag; was er an Tellern, Schüsseln und Töpfen besaß, stand auf einem Brett an der Wand, und ich erriet (Gott weiß wie!), daß zwar die beiden Mädchen mit dem zerzausten Haargeflecht Kapitän Hopkins Kinder wären, die schmuddelige Dame aber nicht mit ihm verheiratet sei. Ich hatte kaum länger als ein paar Minuten schüchtern auf seiner Schwelle gestanden, und dennoch alle diese Bereicherung meiner Kenntnisse mit heruntergebracht, ebenso gewiß, als ich die Gabel und das Messer in meiner Hand hatte.

      Es war trotzdem etwas Romantisch – Zigeunerhaftes in unserer Mahlzeit. Ich brachte Kapitän Hopkins' Messer und Gabel beizeiten nachmittags wieder hinauf und ging heim, um Mrs. Micawber mit einem Bericht über meinen Besuch zu trösten. Sie fiel in Ohnmacht, als sie mich zurückkehren sah, und machte nachher einen kleinen Krug Eierpunsch zu unsrer Stärkung, wählend wir die Ereignisse des Tages besprachen.

      Ich weiß nicht, inwiefern die Möbel zum Nutzen der Familie verkauft wurden und wer sie kaufte; nur soviel weiß ich, daß ich es nicht war. Verkauft wurden sie jedoch und in einem großen Möbelwagen fortgefahren, mit Ausnahme des Bettes, einiger Stühle und des Küchentisches. Mit diesen Besitztümern kampierten wir sozusagen in den beiden Wohnstuben des ausgeleerten Hauses auf der Windsor-Terasse: Mrs. Micawber, die Kinder, die stockschnupfige Waise aus dem Armenhaus und ich. So hausten wir in den öden Räumen Tag und Nacht. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, aber es muß sehr lange gewesen sein. Endlich entschloß sich Mrs. Micawber ins Gefängnis überzusiedeln, wo Mr. Micawber jetzt ein eigenes Zimmer erlangt hatte. So trug ich die Hausschlüssel zu dem Besitzer, der sehr froh war, sie wieder in die Hand zu bekommen, und die Betten wurden in die Kings-Bench geschickt, mit Ausnahme des meinigen, für das wir ein kleines Stübchen außerhalb der Umfassungsmauern, aber – zu meiner Befriedigung – in der Nähe dieser segensreichen Anstalt mieteten. Denn Micawbers und ich hatten uns in unsrer Not zu sehr aneinander gewöhnt, um uns zu trennen. Die Waise wurde gleichfalls mit einem wenig kostbaren Unterschlupf in der Nachbarschaft versorgt.

      Meins war ein stilles Kämmerchen mit schrägem Dach, das einen freundlichen Blick auf einen Zimmerplatz hatte, und als ich davon Besitz ergriff in dem Bewußtsein, daß Mr. Micawbers Schwulitäten nun zu einer Krisis gekommen waren, schien es mir ein wahres Paradies.

      Die ganze Zeit über arbeitete ich bei Murdstone und Grimby in derselben niedrigen Beschäftigung, mit denselben niedrigen Genossen und mit demselben Gefühl unverdienter Erniedrigung, wie zu Anfang. Aber niemals machte ich, und gewiß zu meinem Glück, eine Bekanntschaft oder sprach mit einem der vielen Knaben, die ich täglich auf dem Wege von und nach der Niederlage oder bei meinem Herumstreifen auf der Straße von Zeit zu Zeit sah. Ich führte dasselbe heimlich unglückliche Leben und in derselben einsamen, selbstgenügsamen Weise. Ich weiß nur von der einzigen Veränderung, daß ich äußerlich noch mehr heruntergekommen war, und daß die Sorge um Mr. und Mrs. Micawber bei weitem weniger auf mir lastete; denn einige Verwandte oder Freunde unterstützten sie jetzt, und sie lebten besser im Gefängnis, als in der letzten Zeit außerhalb dieser Anstalt. Infolge eines Arrangements, dessen Details ich vergessen habe, frühstückte ich jetzt bei ihnen.

      Auch habe ich vergessen, zu welcher Stunde morgens die Tore geöffnet wurden und ich hineingehen durfte, aber ich weiß noch, daß ich schon oft um sechs Uhr auf war, und daß mein Lieblingsaufenthalt in der Zwischenzeit die alte Londonbridge war. Ich pflegte in einer der steinernen Nischen zu sitzen, die Vorübergehenden zu beobachten oder durch das Geländer zu sehen, wie die Sonne auf das Wasser schien und wie sie die goldene Flamme auf der Spitze des Monumentes erhellte. Hier traf ich manchmal die Waise, der ich dann die ungeheuerlichsten Erdichtungen in bezug auf die Werften und den Tower aufband, von denen ich jetzt nur sagen kann, daß ich sie damals hoffentlich selbst geglaubt habe. Abends pflegte ich wieder das Gefängnis aufzusuchen und mit Mr. Micawber auf der Promenade auf und ab zu spazieren, oder mit Mrs. Micawber Kasino zu spielen und ihre Erinnerungen an Papa und Mama mit anzuhören. Ob Mr. Murdstone wußte, wo ich war, kann ich nicht sagen; bei Murdstone und Grimby sprach ich nie davon.

      Obgleich Mr. Micawbers Angelegenheiten jetzt über die Krisis hinaus waren, so waren sie doch noch sehr verwickelt wegen eines gewissen Dokumentes, von dem ich viel reden hörte, und das, wie ich jetzt vermute, eine frühere Vereinbarung mit seinen Gläubigern gewesen sein mag. Damals war mir freilich die ganze Geschichte durchaus nicht klar, und ich bin mir bewußt, daß ich es mit jenen teuflischen Pakten verwechselte, die einstmals in Deutschland sehr gebräuchlich gewesen sein sollen. Endlich schien dies Dokument irgendwie aus dem Wege geräumt zu sein, wenigstens hörte es auf, die Klippe zu bilden, die es bisher gewesen war. Mrs. Micawber teilte mir mit, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber sollte sich auf das Bankerottgesetz berufen, wodurch er, wie sie hoffte, binnen sechs Wochen in Freiheit gesetzt werden würde. Endlich war diese Klippe glücklich umschifft und Mrs. Micawber benachrichtigte mich, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber solle sich unter den Schutz des Fallitengesetzes begeben, wodurch seine Befreiung in etwa sechs Wochen in Aussicht stand.

      »Und dann«, sagte Mr. Micawber, der ebenfalls anwesend war, »bezweifle ich nicht, daß ich mit Gottes Hilfe wieder vorwärts kommen und ein ganz neues Leben anfangen werde, wenn – kurz wenn sich etwas findet.«

      Um jede Gelegenheit zu benutzen, sich auf alle eintretenden Möglichkeiten vorzubereiten, kann ich mich noch erinnern, daß Mr. Micawber um diese Zeit eine Petition an das Unterhaus um Abänderung der Gesetze über die Schuldhaft entwarf.

      Ich schalte diese Erinnerung hier ein, weil sie mir ein Beweis ist für die Art, wie ich die alten Bücher meinem neuen Leben anpaßte, und mir selbst Geschichten zurecht machte aus den Straßen und den Menschen darin, und wie sich in einigen Hauptpunkten der Charakter, den ich unwillkürlich zeichne, indem ich mein Leben beschreibe, meiner Meinung nach schon allmählich

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