David Copperfield. Charles Dickens
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Die Kontoruhr zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagsessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich herein rief. Ich gehorchte und fand drinnen einen wohlbeleibten Mann von mittleren Jahren, in einem braunen Überzieher und schwarzen engen Hosen und Schnallenschuhen, mit einem kahlen Kopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen, breiten Gesicht. Die Kleider waren schäbig, aber er hatte ungeheuere Hemdkragen, sog. Vatermörder. In der Hand hielt er einen ziemlichen Stock, der seinerzeit ein glänzendes Exemplar gewesen war und noch ein paar große, ehemals schwarze Quasten hatte. Vor der Brust hing ihm eine Lorgnette, wie ich später fand, nur zur Zierde, denn er benutzte sie selten und konnte nichts erkennen, wenn er hindurchsah.
»Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.
»Das ist Master Copperfield?« sagte der Unbekannte mit einer gewissen affektierten Herablassung in seiner Stimme und in seinem Benehmen, die einen großen Eindruck auf mich machte. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir.«
Ich sagte: Ja, und hoffte das gleiche von ihm. Der Himmel weiß es, es war mir ziemlich schlimm zumute; aber es lag nicht in meiner Art, viel zu klagen, und so sagte ich, ich befände mich »ganz wohl« und hoffe von ihm das gleiche.
»Ich befinde mich ganz wohl, Gott sei Dank!« sagte der Unbekannte. »Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem er mich ersucht, in einem Zimmer in dem hintern Teile meines Hauses, das jetzt unvermietet ist und – und –« platzte der Fremde in einem Anfall von Vertraulichkeit mit einem Lächeln heraus, »als Schlafstube vermietet werden soll, den jugendlichen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe, zu –« hier brach der Unbekannte ab, machte eine theatralische Handbewegung und zog das Kinn in den Hemdkragen zurück.
»Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.
»Hm!« sagte der Fremde. »Das ist mein Name.«
»Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist mit Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, wenn er sie bekommen kann. Mr. Murdstone hat an ihn wegen deiner Wohnung geschrieben; er wird dich als Mieter zu sich nehmen.«
»Meine Adresse«, sagte Mr. Micawber, »ist Windsor-Terrasse City Road. Ich – kurz,« sagte Mr. Micawber und fiel aus derselben vornehmtuenden Redeweise plötzlich wieder in den vertraulichen Ton – »kurz, ich wohne dort.«
Ich machte eine Verbeugung.
»In der Voraussetzung,« sagte Mr. Micawber, »daß Ihre Exkursionen in dieser Metropole bisher nicht sehr ausgedehnt gewesen sein können, und daß es Ihnen einigermaßen schwerfallen dürfte, die Mysterien des modernen Babylon in der Richtung des City Road zu durchdringen – kurz,« sagte Mr. Micawber wieder mit plötzlicher Vertraulichkeit, »daß Sie sich verlaufen könnten, werde ich so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen, um Sie in die Kenntnis des nächsten Weges zu meinem Domizil einzuweihen.«
Ich dankte ihm von ganzem Herzen, denn es war freundlich von ihm, diese Mühe freiwillig zu übernehmen.
»Zu welcher Stunde, Mr. Micawber, soll ich –«
»Gegen acht«, sagte Quinion.
»Also gegen acht«, sagte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, Mr. Quinion. Ich will nicht länger stören.«
Er setzte seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arme, hochaufgerichtet und ein Liedchen summend, als er das Kontor hinter sich hatte.
Mr. Quinion engagierte mich alsdann förmlich als Gehilfen in der Weinniederlage von Murdstone und Grimby mit einem Salär, glaube ich, von sechs Schillingen wöchentlich. Ich weiß nicht mehr genau, ob es sechs oder sieben waren; aber aus der Unsicherheit meiner Erinnerung vermute ich, daß ich erst sechs und später sieben erhielt. Er bezahlte mich eine Woche im voraus – aus seiner Tasche glaube ich, – und ich gab davon dem Kartoffelkloß eine Sixpence, damit er meinen Koffer abends nach Windsor Terrace trage, weil ich ihn, so klein er war, doch noch nicht tragen konnte. Fernere Sixpence zahlte ich für mein Mittagessen, das in einem Stück Fleischpudding und in einem Trunk aus dem nächsten Brunnen bestand und verbrachte die Stunde, die für die Mahlzeit freigegeben war, mit Herumschlendern durch die nächsten Straßen.
Abends zur bestimmten Stunde stellte sich Mr. Micawber ein. Ich wusch mir Hände und Gesicht, um mich mit seiner Vornehmheit in größeren Einklang zu bringen, und wir gingen zusammen nach »unsrer« Wohnung, wie ich wohl sagen kann. Unterwegs machte mich Mr. Micawber auf die Namen der Straßen und das Aussehen der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am andern Morgen wieder den Rückweg finden könnte.
In seinem Hause in der Windsor-Terrasse angekommen; das, wie ich bemerkte, ebenso schäbig war wie er, aber auch wie er soviel wie möglich auf äußern Schein hielt, stellte er mich der Mrs. Micawber vor, einer dünnen und welken und durchaus nicht mehr jungen Dame, die, mit einem Kinde an der Brust, in der Wohnung im ersten Stock saß, denn das ganze Parterre war gar nicht möbliert: die Vorhänge waren aber schlauerweise heruntergelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar; und ich will gleich hier bemerken, daß ich während meiner ganzen damaligen Bekanntschaft mit der Familie schwerlich jemals die Brust der Mutter ohne einen der Zwillinge sah. Mit einem der Kinder war sie stets beschäftigt, um es zu nähren.
Außerdem waren noch zwei andere Kinder vorhanden: Master Micawber, etwa vier, und Miß Micawber, etwa drei Jahre alt. Dazu kam noch ein junges, schwarzes Dienstmädchen, das beständig den Stockschnupfen zu haben schien und als Waise aus dem benachbarten St. Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer war unter dem Dache nach dem Hofe hinaus, klein und schmal, weiß und blau gemalt mit Ornamenten, die für meine kindliche Phantasie eine Reihe von Semmeln bildeten, und sehr dürftig möbliert.
»Ich hätte nie gedacht,« sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen herauf kam, um mir meine Behausung zu zeigen, und sich setzte, um Atem zu schöpfen, – »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama war, daß ich einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber in Bedrängnis ist, müssen alle Rücksichten auf selbstische Gefühle vergessen werden.«
Ich sagte: »Jawohl, Madame!«
»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind in diesem Augenblick gerade fast erdrückend,« fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn wieder herauszubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause war bei Papa und Mama, verstand ich kaum, was das Wort in dem Sinne zu bedeuten hat, in dem ich es jetzt gebrauche, aber experientia ist die beste Lehrmeisterin – wie Papa zu sagen pflegte.«
Ich weiß nicht mehr recht, ob sie mir sagte, daß Mr. Micawber Marineoffizier gewesen wäre, oder ob ich es mir nur einbildete. Ich weiß nur noch, daß ich bis zu dieser Stunde glaube, daß er einmal bei der Marine gewesen ist, ohne einen Grund für diese Annahme anführen zu können. Gegenwärtig war er eine Art Stadtreisender für verschiedene Häuser, machte aber, wie ich fürchte, wenig oder gar keine Geschäfte dabei.
»Wenn Mrs. Micawbers Gläubiger nicht