David Copperfield. Charles Dickens
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Ich weiß nicht, ob meine frühreife Selbständigkeit Mrs. Micawber über mein Alter irre machte oder ob die Sache sie so sehr erfüllte, daß sie davon sogar den Zwillingen erzählt hätte, wenn sie niemand anders gehabt hätte – aber in diesem Tone fing sie an und redete weiter, während der ganzen Zeit unseres Zusammenwohnens.
Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustür war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Pension für junge Damen«, aber ich erfuhr nie daß sich hier eine junge Dame in Pension gegeben hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besuche, die das Haus empfing, waren Gläubiger.
Diese kamen freilich zu allen Stunden des Tages, und waren manchmal fuchsteufelswild. Ein Mann mit schmutzigem Gesicht – ich glaube, es war ein Schuster – pflegte z. B. schon um sieben Uhr morgens in den Flur zu kommen und die Treppe hinaufzurufen: »Mr. Micawber! kommen Sie nur heraus! Ich weiß, daß Sie noch zu Hause sind! Wollen Sie mich bezahlen – he?! Verstecken Sie sich nur nicht! Das ist gemein und erbärmlich! Pfui, schämen Sie sich was! Wollen Sie bezahlen?! Hören Sie?!! Heraus mit Ihnen!« Als er auf solche Stachelreden keine Antwort erhielt, verstieg er sich in wachsendem Zorne zu »Schwindler!« und »Räuber!« und wenn auch diese Kraftausdrücke wirkungslos blieben, ging er in seiner Wut manchmal so weit, sich auf der Straße gegenüber Mr. Micawbers Wohnung hinzupflanzen und zu dessen Fenstern im zweiten Stocke hinaufzubrüllen, wo, wie er wußte, sein Schuldner wohnte. Dann konnte Mr. Micawber vor Gram und Aufregung dazu gebracht werden – worauf ich einmal durch einen Schrei Mrs. Micawbers aufmerksam gemacht wurde – sich mit dem Rasiermesser nach der Gurgel zu fahren, wenn er auch eine halbe Stunde später mit minutiösester Sorgfalt seine Stiefel putzte und ausging, und mit weltmännischer Gelassenheit eine muntere Arie trällerte. Ganz so elastisch war auch Mrs. Micawber. Ich habe es erlebt, daß sie um drei Uhr Ohnmachtsanfälle bekam, wenn der Steuerbote erschien – und daß sie um vier Uhr mit bestem Appetit panierte Lammsrippchen aß und warmes Ale dazu trank, was mit dem Erlös für zwei zum Pfandleiher gewanderte Teelöffel bezahlt war. Eines Tages, an dem ich zufällig schon um sechs Uhr nach Hause gekommen war, fand ich sie, nachdem eben eine Pfändung stattgefunden hatte, unter der Herdnische in Ohnmacht liegen (natürlich mit einem Zwilling an der Brust), das Haar wild zerrauft, und noch denselben Abend erzählte sie mir, so heiter wie noch nie, mit einem Kalbskotelett am Herdfeuer beschäftigt, Geschichten von ihrem Papa und ihrer Mama und von den Gesellschaften, die sie zu geben pflegten.
In diesem Hause, bei dieser Familie verbrachte ich meine freie Zeit. Mein eigenes Frühstück, bestehend aus einem Groschenbrötchen und Milch für einen Groschen, besorgte ich mir selbst, ebenso reservierte ich mir auf einem bestimmten Brett eines bestimmten Schrankes ein anderes kleines Laibchen mit einem bißchen Käse zum Abendessen, wenn ich nach Hause kam. Daß dies schon ein fühlbares Loch in meinen mit sechs oder sieben Schillingen gefüllten Beutel machte, wußte ich wohl: mußte ich mich doch mit dieser Summe die ganze Woche beköstigen! Kurz – von Montag früh bis Sonntag abends spät keinen Rat, keine Ermunterung, keinen Trost, keine hilfreiche Hand irgend einer Art von irgend jemand. Und das ist die Wahrheit, so wahr ich selig zu werden hoffe! Ich war so jung und kindisch und so wenig geeignet, ohne Beaufsichtigung für mich zu sorgen (wie hätte es auch anders der Fall sein können), daß ich oft früh, wenn ich zu Murdstone und Grimby ging, dem Anblick des zum halben Preise in einem Konditorladen ausgestellten altbackenen Kuchens nicht widerstehen konnte und dazu das Geld verwendete, das zu meinem Mittagsessen bestimmt war. Dann fastete ich mittags oder kaufte mir ein Brötchen oder eine Schnitte Pudding.
Ich erinnere mich an zwei Puddingladen, die ich abwechselnd mit meiner Kundschaft erfreute, je nach dem Stande meiner Finanzen. Der eine befand sich in einem Hofe dicht hinter der St. Martinskirche, die jetzt abgebrochen ist. Der Pudding von dort war mit Johannisbeeren gefüllt und besonders gut, aber freilich auch teuer, denn für zwei Pence gab es nur so viel, wie wo anders weniger gute Ware für einen Penny. Ein guter Laden für diesen billigern war am Strand in einer Gegend, die heutzutage gleichfalls umgebaut ist. Das war ein schwerer, quadderiger Pudding mit Rosinen darin, aber äußerst dünn gesät. Er war gerade immer warm aus dem Ofen zu haben, wenn ich vorbeikam, und das war so manchen Tag mein ganzes Mittagessen. Wenn ich regelrecht und gut zu Mittag aß, so nahm ich eine gekochte Rindfleischwurst und ein Groschenbrötchen, oder einen Teller Rindfleisch für vier Pence aus einer Garküche, oder Brot und Käse und ein Glas Bier aus einer elenden Winkelkneipe, unserm Geschäft gegenüber, die sich stolz »Zum Löwen« nannte, vielleicht auch gar »Zum goldenen Löwen« – ich habe die genaue Bezeichnung vergessen!
Einmal, ich kann mich noch daran erinnern, trug ich mein Brot, in Papier eingewickelt, wie ein Buch unter dem Arme, ging in ein renommiertes flottes Speisehaus in Drury Lane und bestellte mir eine halbe Portion Boeuf à la mode, das dort einen Ruf hatte. Was der Kellner gedacht haben mag, als ich so mutterseelenallein eintrat, weiß ich nicht, aber ich sehe ihn noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie er auch noch den andern Kellner holte, um mich gemeinschaftlich mit ihm anzustarren. Ich gab ihm einen halben Penny Trinkgeld und wünschte nur, er hätte ihn nicht genommen.
Wir hatten, glaube ich, eine halbe Stunde Vesperzeit. Wenn ich hinreichend Geld hatte, ließ ich mir ein Quart Melangekaffee geben mit Butterbrot. Hatte ich keines, so ging ich auf die Suche und sah mich an dem Schaufenster einer Wildbrethandlung in Fleetstreet satt, oder ich schlenderte bis zum Coventgardenmarkt und gaffte die Ananasse an. Ich schlenderte sehr gern umher, namentlich in Adelphi, wo mir die dunkeln Bogengänge so verhängnisvoll vorkamen. Ich sehe mich noch eines Abends aus einem dieser Bogen treten und mich einer kleinen Schenke bei dem Fluß nähern, vor der sich eine freie Stelle befand, auf der ein paar Kohlenträger miteinander tanzten. Ich setzte mich auf eine Bank und sah ihnen zu. Was sie wohl von mir gedacht haben mögen!
Ich war noch so sehr Kind und noch so klein, daß oft, wenn ich in ein fremdes Wirtshaus trat und ein Glas Ale oder Porter forderte, um mein Hungerleidermahl damit hinunterzuspülen, daß sie es mir oft zu geben zauderten. Ich weiß noch, wie ich an einem warmen Abende an das Büfett eines Bierhauses trat und zu dem Wirte sagte:
»Was kostet das Glas von Ihrem allerbesten Ale?« denn es war eine besonders festliche Gelegenheit, vielleicht gar mein Geburtstag.
»Zwei einen halben Pence ist der Preis für das echte extrastarke«, sagte der Wirt.
Dann sagte ich und legte das Geld hin: »Geben Sie mir ein Glas von dem echten Doppel-Ale, frisch vom Fasse – aber bitte eine schöne Schaumkappe mit drauf.«
Der Wirt hinter dem Schenktisch sah mich von Kopf bis zu Füßen mit einem seltsamen Lächeln auf seinem Gesichte an; und anstatt das Bier aus dem Fasse einzuschenken, blickte er hinter die spanische Wand und sagte etwas zu seiner Frau. Sie kam hervor, ihre Näharbeit in der Hand, und musterte mich jetzt auch. Und ich sehe uns drei noch ganz deutlich vor mir. Der Wirt in Hemdärmeln lehnte gegen das Fensterkreuz des Schenkzimmers, die Frau sah über die halbe Zwischentür, und ich, außerhalb des Verschlages stehend, blickte verdutzt zu ihnen auf. Sie fragten mich vielerlei, wie ich heiße, wie alt ich sei, wo ich wohne, was ich treibe und wie ich dazu komme? Auf alle diese Fragen erfand ich, um niemand zu kompromittieren, passende Antworten. Dann versorgten sie mich mit Bier, obgleich ich vermute, daß es nicht das echte, extrastarke Doppel- Ale war; und als ich damit fertig war, öffnete die Frau des Wirtes die Klappe des Buffetts, beugte sich über mich, gab mir mein Geld zurück und einen Kuß dazu, der halb bewundernd und halb mitleidig, aber recht mütterlich war.
Ich weiß, ich übertreibe nicht unbewußt oder unabsichtlich die Knappheit meiner Einkünfte oder die Schwierigkeit meines damaligen Lebens. Ich weiß, daß wenn mir Mr. Quinion einen Schilling gab, ich ihn für Mittagbrot oder Vesper verwendete. Ich weiß, daß ich von früh bis spät abends als ärmliches Kind unter Männern und Knaben