Heimat bist du großer Namen. Dietmar Grieser
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»Robinson Crusoe«, »Waldläufer« und »Lederstrumpf« lesen auch die anderen, er hingegen will’s genau wissen: Die Eltern schenken ihm ein Abonnement von Spemanns illustrierter Knabenzeitung »Der gute Kamerad«, und als im Sommer 1886 die »Bud Atkinson Wild West Show« mit ihrer Truppe in der Prater-Rotunde auftritt (Eintrittspreis 20 Kreuzer), ist es um den kleinen Ernst vollends geschehen: Die Lasso-Würfe, Reiterkunststücke und Kampfrufe der Sioux-Indianer gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als Bastelwerkzeug kommen fortan nur noch Federbusch und Tomahawk in Betracht, aus seinem Spielplatz wird ein Wigwam, und wer bei dem Zehnjährigen Gehör finden will, tut gut daran, ihn nicht »Ernstl« zu rufen, sondern »Eisenarm«.
Drei Jahre später, die Familie Tobis geht auseinander. Während der Vater in Wien bleibt und weiterhin seinen Geschäften als Porzellanhändler nachgeht, übersiedelt die Mutter mit den Kindern nach Frankfurt, wo Gabriele, das älteste, Gesang studiert (und sich später als erste Koloratursopranistin der Oper einen Namen machen wird).
Ernst ist soeben mit der Volksschule fertig geworden – was nun? Wenn es nach ihm ginge, würde er am liebsten als Schiffsjunge anheuern. Da wird im Frankfurter Palmengarten eine Lehrstelle frei: Mutter Tobis, fest entschlossen, die Abenteuerlust ihres Sprößlings zu zügeln, läßt ihn zum Kunstgärtner ausbilden. Und wieder ist es das Gastspiel einer amerikanischen Wandertruppe, das ihm den Kopf verdreht: »Buffalo-Bill’s Wild West« erobert mit ihren 200 Indianern und Cowboys, ihren Wildpferden und Büffeln für mehrere Tage die Stadt am Main – und noch dazu im Palmengarten!
Gärtnerlehrling Ernst Tobis gehört der Brigade an, die darauf zu achten hat, daß bei dem Massenansturm der Besucher die Grünanlagen nicht verwüstet werden – er ist also mittendrin im Geschehen. Und noch etwas: Er erfährt, daß die Buffalo-Bill-Leute einen Stallburschen suchen! Ernst Tobis reißt von daheim aus und schließt sich den Artisten an, bis ihn seine verzweifelte Mutter in der Gegend um Straßburg aufspürt und zurückholt. Einziger Trost: ein Paar Original-Mokassins, das er einem der Mitglieder der Truppe abgebettelt hat. Es wird der Grundstock seiner später weltberühmten Sammlung sein …
Ernst Tobis hat Zirkusluft geschnuppert, und das bleibt nicht ohne Folgen. Während er tagsüber seine Gärtnerlehre abschließt, trifft er sich in der Freizeit mit Gleichgesinnten im Turnverein »Helvetia« und erlernt die Grundbegriffe der Parterreakrobatik. Doch der Weg in die Manege ist steinig: Beim ersten Engagement in einem kleinen Wanderzirkus muß sich der inzwischen Siebzehnjährige noch mit Zeltaufbau und Kulissenschieben begnügen, und sein Debüt als »Coupletsänger Ernst Teuber« endet überhaupt mit einem Fiasko. Erst als er bei einer auf Saltos und Pyramiden spezialisierten Akrobatentruppe als Ersatzmann einspringen darf, kommt er endlich seinem Ziel näher, und drei Jahre später ist er sein eigener Chef: Unter dem Künstlernamen Patty Frank zieht er mit fünf weiteren Artisten von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Ob Schumann oder Hagenbeck, ob Sarrasani oder Medrano – alle namhaften Zirkusunternehmen nehmen die »Acrobatic Wonders« unter Vertrag, und mit der Nr.1, Barnum & Bailey, steigt der Wiener Kraftlackel sogar ins amerikanische Showbusineß ein.
Fragt sich nur: Wie lange kann man einen solch mörderischen Beruf ausüben? Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist Patty Frank alias Ernst Tobis ein Mann von 38; einer Fußverletzung wegen bleibt er vom Militärdienst entbunden. Erst mit der Weltwirtschaftskrise der Zwanzigerjahre wird’s für ihn kritisch: Ein Zirkus nach dem anderen geht bankrott, am 30. April 1926 steht Patty Frank zum letztenmal in der Manege. Und was nun?
Die Antwort lautet kurz und bündig: Karl May. Patty Frank hat alle Bücher seines Lieblingsautors verschlungen, ist ihm sogar auf dessen Amerikareise persönlich begegnet. Nun, 14 Jahre nach Karl Mays Ableben, lernt er die Witwe kennen. Klara May ist dabei, den Nachlaß ihres Mannes einer sinnvollen Nutzung zuzuführen und ein Museum zu gründen. Dafür braucht man einen Kustos. Und noch etwas braucht man: weiteres Material. Patty Frank, der sich vom »Eisenarm« aus Kindertagen längst zum autochthonen »Isto Maza« gemausert hat, besitzt es in Hülle und Fülle: All die Jahre hat er wie ein Besessener indianische Gebrauchs- und Kultgegenstände gesammelt, hat, wann immer er auf seinen Amerika-Tourneen in die Nähe von Indianerreservaten kam, Skalps und Skalpiermesser, Jagdhemden und Schneeschuhe, Pfeile, Speere und Lanzen, Friedenspfeifen und Trommeln, Pflanzenstöcke und Totempfähle zusammengetragen, hat über kostspieligen Erwerb oder Tauschhandel noch bestehende Lücken geschlossen, und vor allem: Wissenschaftlich geschulte Ethnologen, beeindruckt vom Reichtum seiner Trophäen, gehen Patty Frank dabei zur Hand, seine Schätze fachgerecht aufzubereiten und zu katalogisieren.
Klara May macht dem gebürtigen Österreicher ein Angebot, das seinem Leben eine neue Richtung geben wird: Sie erwirbt seine Indianersammlung, vereinigt sie mit der ihres Mannes und läßt Patty Frank dafür auf dem Areal von Karl Mays Alterssitz »Villa Shatterhand« in Radebeul bei Dresden ein Blockhaus im Wildwest-Stil errichten, das nicht nur dem zu gründenden Museum, sondern auch dessen Hüter als Unterkunft dienen soll. Dreißig Jahre hindurch – bis knapp vor seinem Tod im Sommer 1959 – wird das Bleichgesicht Patty Frank in der »Villa Bärenfett« den Greenhorns aus aller Welt Leben und Gebräuche der Rothäute erklären: Die Besucherstatistik spricht von 300 000 Gästen pro Jahr. Daß er es, pittoresk durchsetzt mit Sprachbrocken aus den Idiomen der verschiedenen Indianerstämme, im angestammten Wiener Dialekt tut (und sich im privaten Wohntrakt sogar eine Tiroler Bauernstube eingerichtet hat), sorgt für zusätzlichen Reiz. Natürlich trägt er, wenn er im Dienst ist, stets den obligaten Trapperhut auf dem Kopf, und damit die Besucher des Karl-May-Museums auch etwas nach Hause tragen können, das sie lange an ihren Besuch in Radebeul erinnern wird, greift er zur Feder und schreibt eine Reihe von Büchern, die allesamt riesige Auflagen erreichen: »So lebten und starben die Indianer«, »Die Indianerschlacht am Little Big Horn«, »Ein Leben im Banne Karl Mays«.
Sieben Monate nach seinem dreiundachtzigsten Geburtstag geht Patty Frank alias Ernst Tobis alias Eisenarm alias Isto Maza in die ewigen Jagdgründe ein und wird auf demselben Radebeuler Friedhof beigesetzt, auf dem auch sein Idol begraben liegt: Karl May. Zwei Jahre darauf folgt ihm die Frau nach, die er mit 65 geheiratet hat, und siehe da, auch dieses Kapitel ist nicht ohne Pointe: Marie Barthel war zwar nicht, wie man fast vermuten möchte, eine waschechte Indianerin, aber immerhin 20 Jahre lang die Haushälterin von Klara May.
Der burgenländische Patient
Ladislaus von Almásy
Von Romanbiographien und gar von deren Verfilmung ist man einiges an Geschichtsklitterung gewohnt. Doch beim »Englischen Patienten«, der 1992 als Buch und vier Jahre darauf auch als Film weltweit Furore macht, werden alle Rekorde in punkto dichterischer Freiheit gebrochen. Wäre Ladislaus Almásy, das reale Urbild der Titelfigur, noch am Leben, er würde sich weder in der von dem niederländischen Autor Michael Ondaatje gezeichneten Romangestalt noch in dem Hollywood-Schauspieler Ralph Fiennes wiedererkennen, der ihm in dem »Oscar«-gekrönten Kinofilm Statur und Stimme gegeben hat.
Wie also war’s wirklich?
Auf Burg Bernstein kommt unser Held am 22. August 1895 zur Welt. Auf halber Strecke zwischen Lockenhaus und Oberwart gelegen, gehört der Stammsitz der Grafen Almásy um diese Zeit zum habsburgischen Westungarn (und seit 1921 zum Burgenland). Der Vater, ein namhafter Ethnologe, hat eine Steirerin geheiratet, Sohn Ladislaus drückt in Graz die Schulbank. Als er 1914 von seinem College aus England zurückkehrt, beherrscht er sechs Sprachen, darunter Arabisch.
Seine Leidenschaft gilt der Aeronautik: Schon der Vierzehnjährige bastelt sich sein eigenes Segelflugzeug, im Ersten Weltkrieg erringt er als Kampfpilot an der italienischen Front die Tapferkeitsmedaille – die leicht gebückte Haltung, die ihm sein Leben lang bleiben wird, rührt von den Folgen eines Absturzes her.
Von Exkaiser Karl – zum Dank dafür, daß er ihn 1921 zu dem (gescheiterten) Versuch,