Wie die Zeit vergeht. Georg Markus
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Doch der Korruptionsfall vor den Augen des Kaisers hatte ein tragisches Nachspiel: Der für die Verwaltung der Hofküche zuständige – in der Sache selbst unschuldige – Oberstküchenmeister Heinrich Graf Wolkenstein wurde, da man ihm nach Auffliegen des Falles massive Führungsschwäche vorwarf, mit einem anderen Aufgabengebiet innerhalb des kaiserlichen Haushalts bedacht. Wenige Wochen danach nahm sich Wolkenstein das Leben, er hatte die Schande, dass Derartiges in seinem Verantwortungsbereich passieren konnte, nicht verkraftet. Der Kriminalfall wurde nach mehr als hundert Jahren (!) durch die Historikerin Martina Winkelhofer aufgedeckt, als sie die alten Bestände des Hofwirtschaftsamtes durchforstete.
Auch Kaiser Franz Joseph inspizierte hin und wieder einzelne Gefängnisse seines Reichs. Einmal war der als »rasender Reporter« berühmt gewordene Journalist Egon Erwin Kisch als Berichterstatter dabei, als der Monarch eine Haftanstalt besuchte. Franz Joseph trat, berichtete Kisch, auf einen Häftling zu und fragte ihn: »Wie lange muss er sitzen?«
»Lebenslang, Majestät!«
Der Kaiser wandte sich an den Gefängnisdirektor: »Dem Mann ist die Hälfte der Strafe zu erlassen.«
Als Franz Joseph gegangen war, begann man zu überlegen, wie einem »Lebenslänglichen« die Hälfte der Strafe nachzulassen sei.
»Das ist ganz einfach«, riet Kisch, »einen Tag sitzen, einen Tag frei, einen Tag sitzen, einen Tag frei …«
Der Name Maria Veith ist durch ein Bühnenstück zu literarischen Ehren gelangt, doch ihr wahres Schicksal, ihre Tragödie, findet sich in den Akten der Polizeidirektion Wien.
Die »Komtesse Mizzi« galt zur Jahrhundertwende als Liebling der Männerwelt. Adel und Politik waren hingerissen von dem Wiener Mädel, das man in den Ronacher-Séparées, im Prater-Vergnügungs-Etablissement »Venedig in Wien« sowie auf Bällen und Redouten antreffen konnte. Mizzis eleganter Papa Marcel Graf Veith war meist in finanziellen Schwierigkeiten, doch konnte man mit einer noblen Zuwendung dessen Gunst – und damit die seiner Tochter – erkaufen.
Schönheit, Charme und erotische Freizügigkeit der Komtesse sprachen sich bei prominenten Freiern herum. Jeder wusste davon, doch niemand unternahm etwas dagegen. Bis zu jenem 13. November 1907, an dem in der k. u. k. Polizeidirektion Wien eine anonyme Anzeige gegen den angeblichen Grafen wegen Kuppelei eintraf. Obwohl Mizzis zügelloses Verhalten ohnehin stadtbekannt war, schritt nun die Exekutive ein. Marcel Veith wurde verhaftet, vorerst nur wegen unerlaubten Führens des Grafentitels. Bei einer Hausdurchsuchung fand man aber auch Material, das einen Verstoß gegen den Kuppelei-Paragraphen bestätigte. Veith hatte seine Tochter ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr an zahlende Kunden vermittelt.
Während der Vater hinter Gittern saß, begann das nächste Kapitel in Mizzis Tragödie. Ihre einflussreichen Liebhaber blieben aus, da sie fürchteten, in den Skandal verwickelt zu werden. Sie fand keine Freier mehr und verarmte. Eines Tages zog man ihre Leiche aus dem Donaukanal. Mizzi Veith hatte sich ertränkt.
Das Gericht hatte, ehe der Prozess gegen ihren Vater eröffnet wurde, Mizzis Tagebuch entdeckt, in dem die Namen ihrer prominenten Kunden samt pikanter Details aufgelistet waren. Es kam zu Scheidungen, Karrieren gingen zu Ende, Ehemänner waren plötzlich treu, weil sie ähnliche Skandale fürchteten. Marcel Veith wurde zu einem Jahr Kerker verurteilt.
Arthur Schnitzler bewegte das Schicksal der »Komtesse Mizzi« so sehr, dass er es 1909 zu dem gleichnamigen Theaterstück verarbeitete.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie übernahm die Republik die bisherige k. u. k. Polizeiorganisation und baute sie zu einem Exekutivapparat auf, der weltweite Anerkennung fand – eine Reihe von Beamten wurde sogar nach Chicago geholt, wo sie die Ausbildung amerikanischer Nachwuchskräfte unterstützten. Wiens Polizisten erhielten den Spitznamen »Mistelbacher« – nicht, weil so viele von ihnen aus der niederösterreichischen Bezirksstadt stammten, sondern weil die Wiener Polizeidirektion in Mistelbach ein Erholungsheim für ihre Beamten errichtet hatte. 1923 gründete Polizeipräsident Schober die Interpol mit Sitz in Wien, der bald 34 Länder beitraten. Vier Jahre später zeichnete derselbe Johann Schober allerdings für die blutige Niederschlagung der Julirevolte 1927, nach dem Brand des Justizpalasts, verantwortlich.
Zu den spektakulärsten Kriminalfällen der Ersten Republik zählt der des »Eisenbahnattentäters« Sylvester Matuschka, der innerhalb kürzester Zeit mehrere rätselhafte Zugentgleisungen verursacht hatte. Vorerst wurden an der Westbahnstrecke bei Maria Anzbach zweimal hintereinander die Gleisanlagen mutwillig beschädigt – jedes Mal mit der Absicht, den heranrollenden Zug in ein tiefes Tal stürzen zu lassen. Gingen diese beiden Attentate wie durch ein Wunder glimpflich aus, so wurde kurze Zeit später in der Nähe von Berlin eine Zugsgarnitur durch eine Bombe in die Luft gesprengt, wobei mehr als hundert verletzte Passagiere zu beklagen waren. Bahn- und Polizeiermittler fahndeten nun fieberhaft nach dem unbekannten »Eisenbahnattentäter«, ohne das schwerste Unglück dieser Serie verhindern zu können: Am 13. September 1931 wurde der Nachtschnellzug Budapest–Wien auf einer Brücke nahe der Stadt Biatorbágy in die Luft gesprengt und in eine tiefe Schlucht gerissen. 24 Passagiere waren tot, Hunderte schwer verletzt.
Ein Mann meldete sich bei den ungarischen Staatsbahnen und gab an, als Passagier in einem der Waggons gesessen und durch das Unglück verletzt worden zu sein, wofür er nun Schmerzensgeld verlangte. Der Mann hieß Sylvester Matuschka und lebte als Wein- und Realitätenhändler in Wien. Da seine Schadensmeldung unglaubwürdig erschien, wurde er in das Wiener Sicherheitsbüro geladen, wo sich in wochenlangen Verhören herausstellte, dass er nicht in der Eisenbahngarnitur gesessen war, sondern nahe der Brücke auf das Kommen des D-Zuges gewartet hatte. Bald konnten die Kriminalbeamten den Nachweis erbringen, dass Matuschka in Wien zehn Kilogramm Sprengstoff gekauft hatte – mit der Begründung, Reparaturarbeiten an seinem Haus durchführen zu müssen. Matuschka wurde für seine in Österreich begangenen Verbrechen zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt und nach Verbüßung dieser Strafe an Ungarn ausgeliefert, wo ihn für das Attentat bei Biatorbágy die Todesstrafe erwartete, die jedoch nicht vollstreckt wurde.
Mit einem Versicherungsbetrug begann auch die Kriminalgeschichte des Ehepaares Emil und Martha Marek: Der 24-jährige Kaufmann aus Mödling bei Wien stand im Frühjahr 1927 wegen des Verdachts, sich selbst das linke Bein abgehackt zu haben, vor Gericht. Er und seine Frau hatten von der »Anglo-Danubian-Lloyd« wegen eines »Arbeitsunfalls« 400 000 Schilling zu kassieren versucht. Nicht nur, dass die Polizze erst einen Tag vor dem Unfall in Kraft getreten war, ergab die gerichtsmedizinische Untersuchung des Stumpfes, dass das Bein durch vier Axthiebe abgetrennt wurde. Laut Anklage handelte es sich um Selbstverstümmelung Emil Mareks unter Beihilfe seiner Frau Martha.
Dennoch wurde das Paar mangels Beweisen freigesprochen. Mit der Versicherung einigte man sich auf einen Kompromiss: Emil Marek wurden 180 000 Schilling zugesprochen und ausgezahlt.
Der Prozess war freilich nur das Vorspiel zur eigentlichen »Karriere« der Martha Marek.
Ihr Mann starb fünf Jahre nach der Amputation des Beines.
Bald folgte ihm die einjährige Tochter Ingeborg ins Grab.
Wie Martha Marek später gestand, hatte sie Mann und Kind getötet, »um ein freies Leben führen zu können«.
Diese »Freiheit« nützte sie zu weiteren Giftmorden. Das nächste Opfer war ihre Tante Susanne Löwenstein. Kurz nachdem diese ihr Testament »zugunsten der bedauernswerten Witwe Martha Marek« verändert hatte, starb Frau Löwenstein unter mysteriösen Umständen.
Als das von der Tante geerbte Vermögen aufgebraucht war, nahm Frau Marek eine Untermieterin namens Theresia Kittenberger auf, die sich kurz nach dem Einzug in Mareks