Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard Reclam Taschenbuch

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die entzauberte Wiederkehr der Polymythie, um hier erneut standzuhalten: um seine unausweichliche Mythenpflichtigkeit nicht – monomorph progressiv – durch eine absolute Alleingeschichte, sondern – polymorph transgressiv – durch viele relative Geschichten zu absolvieren. Es gibt – sagte ich – eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört. Man muss das eigens betonen: Die übliche Abwehr einer Definition der Mythen als Geschichten – die man gleichermaßen findet bei Roland Barthes und Alfred Baeumler32 – ist nur der Kunstgriff, mit dem man die Mythen aufs Exotische beschränkt und ausschließt, dass auch die Gegenwart ihre Mythen produziert. Je mehr hingegen die Mythen als Geschichten begriffen werden, um so mehr kann man sehen: es gibt eine spezifisch moderne Polymythie. Von ihren Gestalten nenne ich hier zwei: die Geschichtswissenschaft und das ästhetische Genus Roman. Sie sind spezifisch moderne Phänomene,33 und sie erforschen oder erfinden, und jedenfalls erzählen sie viele Geschichten. Durch den Monotheismus werden aus den Geschichten die vielen Götter, durch sein Ende wird auch noch der eine Gott aus ihnen als handelnde Zentralfigur getilgt: So – entzaubert – tun die Mythen modern in jeglicher Beziehung den Schritt in die Prosa: aus dem Kult in die Bibliothek. Dort sind die Geschichtswerke und die Romane präsent als die Polymythen der modernen Welt: auch das ist aufgeklärter Polytheismus. Das Aufgeklärte an ihnen ist unter anderem, dass sich Fiktion und Realität verschiedener Genera suchen, wenn es auch in den Realgeschichten der Historiker – wo sie Historiker bleiben, d. h. Geschichte erzählend schreiben – unvermeidliche Fiktionsreste gibt und in den Fiktionen der Romanciers – auch und gerade nach der modernen Entzauberung des Epos zur »Epopöe der gottverlassenen Welt«34 – die fundamenta in re. Historien und Romane sind die – aufgeklärten – Polymythen der modernen Welt.35 Den Umgang mit ihnen muss man suchen, um aus jener »nützlichen Idiotie«, zu der das ignorierensleitende Ignoranzinteresse der monomythisch inspirierten direkten utopischen Aktion verführt, in die besonnene Vorsicht der Bildung zurückzufinden: jener Bildung, die Chancengleichheit für die Geschichten – die Polymythen – gewährt: für die Historie, die nichtengagierte, und für die Literatur, die nichtengagierte, deren Liquidierung jenes Vakuum erzeugt, in das der Monomythos eindringt. Es ist fällig, gegenüber der schlechten Fortsetzung des Monotheismus durch Monomythie einzutreten für die modernen Geschichten im Plural – die historischen und die ästhetischen – und in diesem Sinn für einen aufgeklärten Polytheismus, der die individuellen Freiheiten schützt durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind.

      Es könnte – erlauben Sie mir diese Schlussbemerkung – sein, dass all das nicht ohne Konsequenzen bleibt auch für die Philosophie. Es scheint mir ebenfalls fällig, dass sie ihre Kollaboration mit dem Monomythos beendet und Distanz gewinnt auch zu all dem, was in ihr selber zu dieser Kollaboration disponiert. Das ist insbesondere das Konzept der Philosophie als orthologischer Mono-Logos: als das Singularisierungsunternehmen der Ermächtigung einer Alleinvernunft durch Dissensverbote, bei dem – als unverbesserliche Störenfriede – die Geschichten a priori nicht zugelassen sind: weil man da erzählt, statt sich zu einigen. Mir scheint, es wäre gut, zu solcher Orthologie jenes lockere Verhältnis wiederzugewinnen, das in Bezug auf die Orthographie Mark Twain empfahl, als er sagte: Ich bedauere jeden, der nicht die Phantasie hat, ein Wort mal so, mal so zu schreiben. Jede Philosophie ist eine traurige Wissenschaft, die es nicht vermag, über dieselbe Sache mal dies, mal das zu denken und jenen dieses und diesen jenes denken und weiterdenken zu lassen. In diesem Sinne ist selbst der Einfall suspekt: es lebe der Vielfall. Die Geschichten müssen wieder zugelassen werden: gut gedacht ist halb erzählt; wer noch besser denken will, sollte vielleicht ganz erzählen: die Philosophie muss wieder erzählen dürfen und dafür – natürlich – den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz. Aber da ahnt man schon die Entsetzensschreie der Innung und ihre empörten Warnungen: dass das Relativismus bedeute – mit den bekannten Widersinnskonsequenzen und fallacies – und bös’ enden müsse oder gar im Skeptizismus. Es war einmal ein Skeptiker, der hörte dies und empfand es nicht als Einwand: Was meinen die wohl – murmelte er, als er merkte, dass diese Warnung an ihn selber adressiert war: aber vorsichtshalber murmelte er nur – was meinen die wohl, warum ich ein Skeptiker bin? I like fallacy. Hier stehe ich und kann auch immer noch anders: Ich erzähle – als eine Art Scheherazade, die freilich anerzählen muss jetzt gegen die eigene Tödlichkeit – ich erzähle, also bin ich noch; und so – just so – erzähle ich denn: Geschichten und spekulative Kurzgeschichten und andere Philosophiegeschichten und Philosophie als Geschichten und weitere Geschichten und wo es den Mythos betrifft – Geschichten über Geschichten; und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.

      Endnoten

       1

      M. Landmann, »Polytheismus«, in: M. L., Pluralität und Anatomie, München/Basel 1963, S. 104–150; vgl. M. L., »Pluralistische Endzeit«, in: M. L., Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, S. 147–149.

       2

      W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940.

       3

      C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1962), Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 302–304; zur Grundfigur des Arguments bei Lévi-Strauss – was der moderne Mensch nicht sein will, stilisiert er zum Anderen, zur fernen »Natur« und zum »Wilden«: Dadurch hört er aber nicht auf, es zu sein – vgl. C. L.-S., Rasse und Geschichte (1952), Frankfurt a. M. 1972, bes. S. 16–18; exemplarische Anwendung: C. L.-S., Das Ende des Totemismus (1962), Frankfurt a. M. 1965; vgl. insges. C. L.-S., Mythologica (1964 ff.), bes. Bd. 4,2 (»Der nackte Mensch«), Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 765–767: Der Mythos kann nicht sterben, ohne zugleich in der Musik wiederaufzuerstehen. – H. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4), S. 11–66, vgl. S. 527–529. – L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 21974.

       4

      W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, S. 1 und 103; zur gegenwärtigen Aufnahme dieses Ansatzes vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, bes. S. 145–147, 168–170, der zugleich den primären und dominanten Widerfahrnischarakter der Geschichten (bes. S. 54–56) und ihre Verfassung als »Kontingenzerfahrungskultur« (S. 269–271) betont.

       5

      H. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff«, S. 43–45.

       6

      A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M. / Bonn 1964, bes. S. 222.

       7

      R. Barthes, Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a. M. 41976, S. 88.

       8

      F. W. J. Schelling, »Philosophie der Mythologie« (1820–22) in: Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Abt. 2, Bd. 2, Stuttgart/Augsburg 1857, S. 52. Die

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