Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard страница 12
Denn dieses zweite Ende der Polymythie ist ein später Effekt und von langher vorbereitet durch das, was man – entsprechend – nennen kann: das erste Ende der Polymythie. Das war das Ende des Polytheismus. Der Polytheismus nämlich war sozusagen die Klassik der Polymythie. Die Geschichte steht nicht nur für den Menschen, sie steht auch für den Gott: So gab es im Polytheismus deswegen viele Mythen, weil es dort viele Götter gab, die in vielen Geschichten vorkommen und von denen viele Geschichten erzählt werden konnten und mussten. Jene Gewaltenteilung im Absoluten, die der Polytheismus war – eine Gewaltenteilung durch Kampf und noch nicht durch Rechtsregeln – brauchte und brachte die Gewaltenteilung der Geschichten durch Polymythie. Das Ende des Polytheismus ist der Monotheismus; er ist das erste Ende der Polymythie: er ist eine ganz besonders transzendentale – nämlich historische – Bedingung der Möglichkeit der Monomythie. Im Monotheismus negiert der eine Gott – eben durch seine Einzigkeit – die vielen Götter. Damit liquidiert er zugleich die vielen Geschichten dieser vielen Götter zugunsten der einzigen Geschichte, die nottut: der Heilsgeschichte; er entmythologisiert die Welt. Das geschieht epochal im Monotheismus der Bibel und des Christentums. Zwar pflegen hier die zuständigen Theologen – unter Hinweis etwa auf die Trinitätslehre – zu protestieren: das Christentum sei – anders als z. B. der Islam – gar kein »richtiger« Monotheismus. Aber es genügt für den Zusammenhang, der hier beschäftigt, dass das Christentum jedenfalls »als« Monotheismus »wirkte«. Der christliche Alleingott bringt das Heil, indem er die Geschichte exklusiv an sich reißt. Er verlangt das sacrificium mythorum17 schon bevor Gott innerhalb der Philosophiegeschichte des Christentums schließlich – zum Ausgang des Mittelalters – seiner heilsgeschichtlichen Macht das Image einer gegenweltlichen Willkürherrschaft gab. Wo dann diese – nominalistisch – von der Welt auch noch das sacrificium essentiae und vom Menschen auch noch das sacrificium intellectus verlangte, trieb dies Mensch und Welt in die Emanzipation: Der Kopf optiert fürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen; und wo die Heilsgeschichte gegenweltlich wird, muss sich – schon aus Notwehr – die Welt gegengeschichtlich formieren: die Welt wird so – indirekt durch den Monotheismus selber – zur Geschichtslosigkeit18 gezwungen. Sie formiert sich neuzeitlich durch Absage auch noch an die letzte, die Heilsgeschichte, und also antigeschichtlich: als exakte Wissenschaftswelt und als System der Bedürfnisse; sie versachlicht sich zur Welt der bloßen Sachen. Die Geschichten werden generell verdächtigt: die Mythen als Aberglaube, die Traditionen als Vorurteile, die Historien als Vehikel des Ablenkungsgeistes der bloßen Bildung. Das Ende des Polytheismus, der Monotheismus, entmythologisiert – im Effekt – die Welt zur Geschichtslosigkeit.
3. Das Unbehagen am Monomythos. Aber die Menschen sind mythenpflichtig: Wenn das – wie ich eingangs sagte – gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz.
In diese vakante Stelle tritt jetzt – scheinbar unwiderstehlich – der nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu »der« Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist – nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog – die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb anderer Mittel: Dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt – wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Misslingen ihrer Säkularisation – die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ›Emanzipationsgeschichte‹ von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie.
Der Ausdruck »neue Mythologie« entstand kurz vor 1800. »Wir müssen eine neue Mythologie haben«, »eine Mythologie der Vernunft«: dies meinte 1796 der Urheber des so genannten »Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus«;19 ich gehöre zu denen, die der zuerst von Rosenzweig und zuletzt von Tilliette vertretenen Meinung anhängen, dass das Schelling gewesen sei.20 Aber Schelling, der so die »neue Mythologie« proklamierte, wurde – und das scheint mir bemerkenswert – nicht der Philosoph der neuen, sondern der Philosoph der ganz alten Mythologie. Zwar gilt das noch nicht vom Identitätssystem; dort – in der Kunstphilosophie: darauf hat besonders energisch Peter Szondi21 hingewiesen – gelten vorübergehend noch »berufene Dichter« und »jedes wahrhaft schöpferische Individuum« als interimistische Agenten der neuen Mythologie: jeder soll »von dieser noch im Werden begriffenen [mythologischen] Welt […] sich seine Mythologie schaffen«22. Aber dann – nach dem Ende des Identitätssystems – wird diese Forderung der neuen Mythologie für Schelling offenbar problematisch und schließlich suspekt: Mit ihr verbindet sich nun bei Schelling – scheint es – die Erfahrung, dass wir die neue Mythologie nicht erst haben müssen, weil wir sie längst schon in ungutem Übermaß haben. Denn – das zeigt sich jetzt und bis in unsere Zeit – die neue Mythologie wurde erfolgreich als Mythologie des Neuen: im Mythos des Fortschritts, der Revolution, der Weltveränderung, des kommenden Reichs, des Generalstreiks,23 des letzten Gefechts und der letzten Klasse, etc. Allemal handelt es sich dabei um Totalorientierung durch die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht; das ist eben diejenige Gestalt des Monomythos, die nach dem Christentum möglich und gefährlich wird: der absolute Alleinmythos im Singular, der – als das zweite Ende der Polymythie – die Pluralität der Geschichten verbietet, weil er nur noch eine einzige Geschichte erlaubt: den Monomythos der allein seligmachenden Revolutionsgeschichte. Wo diese neue Mythologie die gegenwärtige Welt ergreift, wird gerade das liquidiert, was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus. Das Christentum verdrängte ihn aus dem Sonntag der modernen Welt, die neue Mythologie will ihn auch aus ihrem Alltag verdrängen. Darum gehört – wo sie aus Forderung Wirklichkeit wird und wo dies, wie beim späten Schelling, Erfahrung zu werden beginnt – zur neuen Mythologie das Unbehagen an der neuen Mythologie. Die Spätwerke Schellings sind – scheint mir – bereits Reaktion auf dieses Unbehagen: sie nehmen – wörtlich gemeint – Abstand von der neuen Mythologie. Darum kümmert sich Schellings »Philosophie der Mythologie« gerade nicht um die neue, sondern um die ganz alte Mythologie; und darum macht Schellings »Philosophie der Offenbarung« den Versuch, die neue Mythologie in ihrem ältesten Zustand anzuhalten und so als Position zu haben;24 denn die christliche Offenbarung: das ist die älteste neue Mythologie.
Schellings Abkehr von der neuen Mythologie durch Zuwendung zur ganz alten ist repräsentativ für das Schicksal des Mytheninteresses der modernen Welt insgesamt. Es ist geprägt durch das Unbehagen am Monomythos. Schon gleich, als dieser moderne Monomythos durch die Kreation des Singularbegriffs »die« Geschichte entstand, schon in der von Koselleck so getauften »Sattelzeit« kurz nach 1750 formiert sich – repräsentativ bei Christian Gottlob Heyne – im Gegenzug das affirmative Interesse an der Polymythie der alten und immer älteren Mythologie.25 Wo – vorbereitet durch den Monotheismus und vollstreckt durch den Monomythos der Fortschrittsgeschichte – nach dem Polytheismus auch die Polymythie aus unserer Welt zu verschwinden droht, sucht man sie – durch eine mythologische Wende zum Exotischen – außerhalb ihrer: diachronisch in der Vorzeit oder