Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard Reclam Taschenbuch

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die Menschheit sich nicht mehr in Sondergeschichten verzetteln, indem sie multiindividuell oder multikulturell je eigene Wege zur Humanität geht, sondern sie hat fortan zielstrebig diese eine einzige Fortschrittsgeschichte zu durcheilen als einzig möglichen Weg zum Ziel der Menschheit: Durch diese hohle Gasse muss sie kommen: es führt kein andrer Weg zur Freiheit, hier vollend’t sie’s, die Notwendigkeit ist mit ihr: wenigstens scheint das so. Wer sich dieser einen Emanzipationsgeschichte in Eigengeschichten entzieht, wird fortan zum Häretiker, zum Geschichtsverräter, zum Menschheitsfeind: bestenfalls ist er ein Reaktionär. So führt dieser Monomythos jener Geschichte, die nicht mehr »eine«, sondern »die« Geschichte zu sein beansprucht, zum Ende der Polymythie; ich möchte es nennen: das zweite Ende der Polymythie.

      3. Das Unbehagen am Monomythos. Aber die Menschen sind mythenpflichtig: Wenn das – wie ich eingangs sagte – gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz.

      In diese vakante Stelle tritt jetzt – scheinbar unwiderstehlich – der nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu »der« Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist – nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog – die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb anderer Mittel: Dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt – wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Misslingen ihrer Säkularisation – die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ›Emanzipationsgeschichte‹ von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie.

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