Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und – von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz – aus dem Rennen geworfen. Da war – früh: nämlich von der Bibel her – die soteriologische Herausforderung, und da waren – spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich – die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen, und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten – konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla scientiae, als Wissenschaftstheorie. Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. Im Zuge der Geschichte dieser Überforderungen und Verluste ist es auch zweifelhaft geworden, ob es sinnvoll ist, das, was an Zuträglichkeiten für Heil und Technologie und Politik in der Philosophie immerhin anzutreffen war und vielleicht ist, zum Separatum zu stilisieren: ich bezweifle, dass es mehr ist als ein frommer Wunsch der Philosophenprofis, dass die Philosophie den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Vernunft gegen die, die sie aus ihrer tagtäglichen Wirklichkeit eigentlich haben sollten, retten müsste und – falls es wirklich nötig wäre – retten könnte. Es gibt natürlich Leute, die die Philosophie als Amulett betrachten, das gegen Irrwege schützt; jedoch – genau umgekehrt wie bei jenem Hufeisen, das in einer bekannten Anekdote bedeutsam ist, die von Niels Bohr erzählt wird1 – die Philosophie nützt auch und gerade dann nichts, wenn man an sie glaubt. Damit ist jener Sektor berührt, in Bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben. Hier wird der biologische Prozess zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie – das vermute ich einstweilen nur und auch nur manchmal – Philosophie durch wirkliche Altersweisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr. Indes: Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern, und gerade darum jetzt – und das ehrt sie – angefochten sind: denn wo riskant reformiert wird, ist man plausiblerweise daran interessiert, sein Risiko bei der Erfolgskontrolle zu mindern durchs Verbot der Erinnerung. Erinnert die Philosophie besser als die Geisteswissenschaften? Doch wohl kaum: und so ist ihr in diesen erinnernden Wissenschaften, auf die die Philosophie wegen ihres sonstigen Kompetenzverlusts seit dem vorigen Jahrhundert setzte, ein Kompetent erwachsen, der ihre vielleicht letzte Kompetenz in Frage stellt: die Erinnerungskompetenz. Offenbar laufen die Kompetenzen der Philosophie aus, so dass sie bei der Inkompetenz endet. Das heißt nicht, dass sie bei all diesen Fragen gar nichts mehr zu sagen hätte; aber sie ist überwiegend zum aussichtslosen Kompetenten geworden, günstigstenfalls zur zweiten Besetzung: und was nützt es, die zweite Besetzung zu sein, wenn die erste wirklich gut und überdies niemals indisponiert ist. Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie. Was tun? – ich zitiere hier nicht Lenin, sondern Schillers »Teilung der Erde« – Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben; – aber der einzige konstruktive Hilfsvorschlag, den Zeus – bei Schiller – dann machte, der war an die Dichter gerichtet und eben nicht an die Philosophen: gerade den Philosophen hilft er nicht. So bleibt es dabei: Der Bericht zur Lage der Kompetenz der Philosophie, das ist eine Orgie der Fehlanzeigen.
Freilich: stimmt das nun wirklich und muss das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir – mir ganz persönlich – die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. – Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen der Höflichkeit: Es wäre unhöflich, auch nur von ferne den Eindruck zu erwecken, die Münchener brauchten zur Würdigung einer Kompetenz, die sie – und vielleicht als einzige – selber kennen, einen Auswärtigen, gar einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore. – Ich bin auch nicht fähig zur Würdigung solcher Kompetenz, und zwar aus Gründen der Unfähigkeit: Meine Arbeitsstätte ist eben kein Institut für Naivität, sondern nur eines zur Suche der verlorenen, ein Zentrum für konzentrierte Ratlosigkeit: und solch ein Philosoph – nennen wir ihn einen sentimentalischen – hat es schwer etwa mit der Theorie, mit der, die aus dem Staunen erwächst, jenem unadressierten Dank fürs Wohlsein der Welt, der zur Schau ihrer schönen, guten und wahren Ordnung ermuntert; er ist nämlich ein schlechter Stauner, denn das Einzige, worüber er wirklich staunt, das ist: davongekommen zu sein, einstweilen und unwahrscheinlicherweise. – Gleichwohl bin ich bereit, über verbleibende Kompetenzen der Philosophie mich zu äußern. Dieser ganze Prozess des Kompetenzverlusts der Philosophie, er lässt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muss, dann könnte das gerade heißen, dass sie jetzt nahezu alles darf. So mag also mancherlei für sie übrig bleiben. Denn da sind schließlich auch noch ihre unbestrittenen Pensen: die Philosophiegeschichte und ebenso auch die Logik, die freilich in Symbiose lebt mit der Mathematik. Überhaupt sind Symbiosen wichtig: vor allem für die Grundlagenphilosophie der Einzelwissenschaften. In diesen ist – nach Heideggers Diktum – so viel Philosophie wie Fähigkeit zur Grundlagenkrise: ihr Grundlagenkrisenmanagement ist also ein bleibendes philosophisches Pensum. Aber wer ist wirklich kompetent dafür? Reine Philosophen? Oder die Wissenschaftler der jeweils betroffenen Wissenschaft selber? Die Zeit der reinen Philosophen ist vorbei: wo sie auf Reinheit bestehen, verlieren sie schließlich die Philosophie. Wie also steht es mit ihrer Grundlagenkompetenz für die Wissenschaften? Hier sind offenbar Zweifel möglich und angebracht; ich äußere sie denn auch freimütig: teils schon deswegen, weil es keinen guten Eindruck machen würde, wenn hier in diesem Kolloquium über die Philosophie nur Zuversichtliches, nur Jubelndes gesagt würde; und teils auch aus kompositorischen, sozusagen aus gliederungsrhythmischen Gründen: was tut man nicht alles – wie jenes berühmte Wiesel – um des Reimes willen; meine Überlegung käme zu keinem Duktus und zu keiner Peripetie, wenn ich nicht zunächst dabeibliebe, nachhaltig