Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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Das ja, direkt genommen, gegen die Fachräson verstößt, indem es die Philosophie als etwas vorstellt, zu dem – und zwar sowohl zum Dogmatismus der Kritik wie zum Skeptizismus der zur Position gemachten Nichtigkeit – man gegenwärtig skeptisch sich verhalten sollte. Aber – zumal es sich ja auch lesen lässt als Dialektik ihrer Fehlleistungen, die eine Analytik ihrer Leistungen provozieren will – indirekt gilt schließlich das Gegenteil; denn welch unerschütterliche Lebenskraft beweist doch die Philosophie als Fach schon allein dadurch, dass sie sich dies leisten kann: bei einem repräsentativen Anlass justament den (was seine Haupttätigkeit betrifft) notorischen Defätisten der Innung als Mutmacher zu engagieren.
Lob des Polytheismus
Über Monomythie und Polymythie
Das Bewusstsein der hohen Ehre, die mir widerfährt durch die Einladung, in Ihrem Mythenkolloquium zu sprechen, verbindet sich bei mir mit einer heftigen Furcht und einer zaghaften Hoffnung. Ich fürchte, Sie haben mich eingeladen, weil Sie bei mir mythologiephilosophische Kompetenz vermuten. Das wäre ein glatter Irrtum: ich habe keine. Wohl aber habe ich etwas anderes, nämlich die eben erwähnte zaghafte Hoffnung, dass Sie mich ganz im Gegenteil – um diese meine mythologiephilosophische Inkompetenz mehr als mir lieb sein kann wissend – aus zwei sehr anderen Gründen eingeladen haben, entweder aus dem einen oder aus dem anderen oder sogar aus beiden. Der eine Grund wäre dieser: Sie lassen mich nicht nur trotz, sondern gerade wegen meiner mythologiephilosophischen Inkompetenz sprechen: weil man hier in diesem Kolloquium – sagen wir einmal: aus Paritätsgründen – einen Nichtsachverständigenvertreter zu Wort kommen lassen will mit einer paradigmatisch inkompetenten Äußerung; nur einen zwar (schließlich haben alle Paritätsregelungen einmal klein angefangen), aber immerhin wenigstens einen; und in diesem Fall ist es ganz plausibel, dass man, wenn schon nicht notwendigerweise mich, so doch jedenfalls einen Auswärtigen chartert: Wer will schon eine Untat verrichten und dann am Tatort bleiben müssen? Der andere Grund wäre dieser: Sie haben erfahren, dass ich der Philosophie »Inkompetenzkompensationskompetenz« zuspreche; wenn das – so mögen Sie folgern – generell zutreffen soll, muss es auch im speziellen Fall – also für das Thema Mythos – zutreffen; und dann soll eben der Urheber dieser philosophiebezüglich halbüblen Nachrede einmal zeigen, was er einschlägig zu bieten hat.
Wohlan denn, ich biete: und zwar ein Lob des Polytheismus. Und ich trage damit natürlich sozusagen Eulen nach Athen, nach Spree-Athen; denn es handelt sich um Überlegungen, die sich – und zwar keineswegs zufällig – mit Gedanken berühren, welche – ungleich länger als ich – an Ihrem hiesigen Konkurrenzbetrieb Michael Landmann1 zu hegen pflegt und mehrfach publiziert hat: wie oft bei ihm am pointiertesten in Pluralität und Antinomie. Was ich – und ich gehe dabei nicht weiter als Landmann, sondern nur (vermutlich) zu weit – nun meinerseits hierzu einschlägig sagen möchte, sage ich in folgenden vier Abschnitten: 1. Zweifel am Striptease; 2. Monomythie und Polymythie; 3. Das Unbehagen am Monomythos; 4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Und ich beginne – ganz konventionell – mit Abschnitt
1. Zweifel am Striptease. Der Mythos ist gegenwärtig polymorph kontrovers. Aber man darf dabei ruhig simplifizieren; und sollte man es nicht dürfen: ich tue es trotzdem. Es gibt – meine ich – zunächst zwei Grundpositionen, zu denen alsbald eine dritte sich gesellt. Die beiden ersten haben eine gemeinsame Prämisse. Wilhelm Nestles Erfolgstitel Vom Mythos zum Logos2, der für Griechisches erfunden wurde, scheint über das von ihm Gemeinte hinaus den Gang der Weltgeschichte des Bewusstseins in ihrem späten Stadium insgesamt zu charakterisieren: als Aufklärung ist sie, scheint es – und es ist dabei egal, ob dies präzis dem Sinn der Bultmannschen Formel entspricht oder nicht – der große Prozess der Entmythologisierung. Mythos – was immer er sonst noch sein mag – ist dann jedenfalls dies: etwas, was wir im Begriff sind, hinter uns zu haben; und dass das so ist: das ist entweder – Position 1 – gut oder – Position 2 – schlimm. Diese beiden Positionen – das mehr oder weniger freudige Ja zum Untergang des Mythos: von Comte bis Horkheimer-Adorno und Topitsch; das mehr oder weniger energisch warnende Nein dazu: von Vico bis zur Heideggerschule – sind einigermaßen unvermeidlich im Spiel, wenn die Weltgeschichte des Bewusstseins zumindest in ihrem späten Stadium – als Aufklärung – dieses sein soll: der Prozess der Entmythologisierung. Aber ist sie das wirklich?
Diese Geschichte des Prozesses der Entmythologisierung ist – meine ich – selber ein Mythos; und dass so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, dass wir ohne Mythen nicht auskommen. Auch diese Meinung – Position 3 – ist keineswegs neu: bei Lévi-Strauss ist sie impliziert und – wenn ich es richtig sehe – bei Hans Blumenberg auch; ausdrücklich vertreten wurde sie von Kolakowski.3 Ich mache mir hier – ohne in jedem Fall die angebotene Begründung zu übernehmen – diese dritte Meinung zu Eigen.
Die Menschen können ohne Mythen nicht leben; und das sollte nicht verwunderlich sein, denn was sind Mythen? Ein »mythophilos« – Aristoteles bezeichnet sich so – ist einer, der gern Geschichten hört: den täglichen Klatsch, Legenden, Fabeln, Sagen, Epen, Reiseerzählungen, Märchen, Kriminalromane, und was es an Geschichten sonst noch gibt. Mythen sind – ganz elementar – justament dieses: Geschichten. Man mag sagen: Ein Mythos ist fiktiver als eine »history« und realer als eine »story«; aber das ändert nichts am Grundbefund: Mythen sind Geschichten. Wer den Mythos verabschieden will, muss also die Geschichten verabschieden, und das geht nicht; denn: »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt«, meint Wilhelm Schapp; »die Geschichte steht für den Mann«,4 schreibt er und meint damit jeden Menschen und hat recht. Es ist diese unsere unvermeidliche Verstrickung in Geschichten, die uns zum Erzählen dieser und anderer Geschichten zwingt; das ist bei dem, was uns widerfährt, zuweilen die einzige Freiheit, die uns bleibt: das an den Geschichten, was wir nicht ändern können, wenigstens zu erzählen und umzuerzählen. Wir tun das auch dann, wenn dabei fast unkenntlich wird, dass es sich um eine Geschichte handelt; Prometheus: hier steht der Mann für die Geschichte, die für den Mann steht. Natürlich ist die Frage interessant, wann Mythen so ultrakurz sein dürfen und wann sie – wie Hans Blumenberg das nennt – »mythische Umständlichkeit«5 entwickeln müssen; aber so oder so: es handelt sich um Geschichten. Und wichtig ist sicher auch, ob Geschichten – wie Gehlen6 meint – dann zu Mythen werden, wenn sie gewissermaßen ›ungesättigt‹ bleiben dadurch, dass die empirische Identifizierbarkeit ihres Personals suspendiert ist: im Grunde agieren dann dort Platzhalter in einer »Erzählung an sich«, die erst bei der Rezeption konkret besetzt wird: so steht die Geschichte für jedermann; aber doch eben: eine Geschichte. Und selbst, wenn es scheint, dass der Kern dieser Geschichte ein »semiologisches System«7 ist und gleichsam maskierte Mathematik, handelt es sich dann um Mythen nicht deswegen, weil diese Geschichten Mathematik, sondern deswegen, weil diese Mathematik Geschichten sind. All das differenziert zwar, aber zugleich bestätigt es den Grundbefund: Mythen sind Geschichten.
Freilich: ist es nicht so, dass das Erzählen von Geschichten aufhört, sobald man wirklich weiß? Müssen nicht dort, wo die Wahrheit auftritt, die Mythen verschwinden? Doch gerade das ist – scheint mir – ganz und gar ein Irrtum. Ich bestreite nicht, dass Mythen in die noch leere Stelle der Wahrheit faktisch eingetreten sind, wo die Menschen noch nicht wussten; aber das ist eine Zweckentfremdung. Denn Mythen sind, wo sie nicht kontermythisch umfunktioniert werden, eben keine Vorstufen und Prothesen der Wahrheit, sondern die mythische Technik – das Erzählen von Geschichten – ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit in die Reichweite unserer Lebensbegabung zu bringen. Da ist nämlich die Wahrheit in der Regel noch nicht, wenn sie entweder – wie etwa die Resultate exakter Wissenschaft z. B. als Formeln – noch unbeziehbar abstrakt oder – wie etwa die Wahrheit über das Leben: der Tod – unlebbar grausam ist: Da dürfen dann nicht nur, da müssen die Geschichten – die Mythen – herbei, um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jener Distanz