Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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Deshalb können wir die Mythen nicht einfach ablegen wie Kleider, obwohl ja auch das Ablegen von Kleidern zuweilen nicht ganz einfach ist. »Meine Identität ist mein Anzug«, sagte Gottfried Benn. Der eine der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Gottfried Keller, schrieb: »Kleider machen Leute«; und wenn es doch – »die Geschichte steht für den Mann« – so ist, dass Geschichten Leute machen, haben offenbar Kleider, die Leute machen, etwas zu tun mit Geschichten, die Leute machen; drum auch schrieb der andere der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Max Frisch, in seinem Gantenbein: »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«.10 Aber aus Gantenbeins Qual der Wahl angesichts des Reichtums seiner Mythengarderobe ist eben nicht zu folgern, dass er er selbst ist erst dann, wenn er keine Geschichte mehr anhat; und so stimmt es auch nicht, dass die Weltgeschichte des Bewusstseins das ist, als was man sie – wie ich eingangs sagte – sehen will: ein ›Fortschritt‹ genannter Striptease, bei dem die Menschheit nach und nach – mehr oder weniger elegant – ihre Mythen ablegt und schließlich – sozusagen mit nichts als sich selber am Leibe – mythisch nackt dasteht: ganz nur noch bloße Menschheit. Dieses Bild ist nicht frivol, sondern hält sich streng im Rahmen der von Blumenberg untersuchten Metaphorik der »nackten Wahrheit«.11 Emil Lask sprach vom »logisch Nackten«; so darf man auch vom mythisch Nackten sprechen: das ist im menschlichen Fundamentalbereich jenes Nackte, das es nicht gibt. Der Mythonudismus erstrebt Unmögliches; denn – so scheint es mir – jede Entmythologisierung ist ein wohl kompensierter Vorgang: je mehr Mythen einer auszieht, desto mehr Mythen behält er an. Darum eben habe ich Zweifel am Striptease: Zweifel – genauer gesagt – an der Vorstellung der spätweltgeschichtlichen Aufklärung als Mythen-Striptease. Diese Vorstellung – sagte ich – ist selber ein Mythos; so ist es fällig, dazu einen Gegenmythos zu finden. Sie alle kennen Andersens sozialpsychologisches Märchen von »des Kaisers neuen Kleidern« und erinnern sich: Da hatten clevere Manager der Branche zur Produktion und zum Vertrieb jener Kleider, welche Leute machen, der herrschenden Klasse die Nullgarderobe aufgeschwatzt; die Sache funktionierte, bis ein zeitkritischer Dreikäsehoch ausrief: Die haben ja nichts an! (Das war zu jener Zeit, als das Kritisieren noch geholfen hat.) Beim jetzt, in unserer Zeit, gesuchten Gegenmythos – Überschrift etwa: »Der Striptease, der keiner war« – muss es umgekehrt sein: da ist die mythische Nullgarderobe gerade das ausdrücklich proklamierte Ziel, da strebt die wissenschaftliche und emanzipatorische Avantgarde nach mythischer Nudität und glaubt, sie zu haben; und hier – scheint mir – funktioniert die Sache vielleicht ebenfalls nur so lange, bis ein phänomenologisch-hermeneutischer Dreikäsehoch auftritt und per naivitatem institutam et per doctam ignorantiam etwa ausruft: Sie da, der Herr aus dem späten Wiener Kreis, Sie haben ja immer noch Mythen an! Was dem Betreffenden sicher gleichfalls sehr peinlich ist, selbst wenn er – denkt man z. B. an Ernst Topitsch – ein echtes Erzähltalent ist: welch pralle Mythen enthält doch sein »Naturgeschichte der Illusion« unterbetiteltes Buch;12 und auch das verbindet ihn mit den alten Mythologen, dass er immer wieder dasselbe erzählt. Ich räume ein: ein Philosoph, der jenen vermeintlichen Striptease als tatsächlichen Mummenschanz durchschaut, muss schon über sensible Methoden verfügen; so etwas Halbes wie etwa die Semi-Otik reicht da keineswegs aus, da muss schon jemand holotisch ein Hermeneutiker sein, um so zu intervenieren. Aber recht – scheint mir – hätte er ja wohl: Wir können die Geschichten – die Mythen – nicht loswerden; wer es trotzdem glaubt, betrügt sich selber. Menschen sind mythenpflichtig; ein mythisch nacktes Leben ohne Geschichten ist nicht möglich. Die Mythen abzuschaffen: das ist aussichtslos.
2. Monomythie und Polymythie. Durch diesen einleitenden Hinweis wollte ich – dem ersten Anschein entgegen – nicht dartun, dass die Aufklärung arbeitslos wird, dass das Pensum der Mythenkritik entfällt. Denn: wenn es aussichtslos ist, die Mythen abzuschaffen, so folgt daraus nicht, dass es am Mythos nichts mehr zu kritisieren gibt; ganz im Gegenteil: erst jetzt bekommt das Aufklärungspensum der Mythenkritik präzise Konturen. Nicht wahr: Wer angesichts von avancierten Knollenblätterpilzen die Forderung erhebt, man solle das Essen gänzlich bleibenlassen, der geht – scheint mir – einfach zu weit und wird nichts ausrichten; ein Ideologiekritiker könnte entlarvungsbeflissen schließen, so einer habe Interesse am Verhungern der anderen. Die vernünftige Maßnahme ist hierbei doch die, die längst erfolgreich ergriffen wurde: eine genaue Unterscheidung des Essbaren und Giftigen. Just so beim Mythos: Angesichts der Mythenpflichtigkeit der Menschen wird die Mythenkritik sinnvoll und vernünftig genau dann, wenn man die Mythen nicht mehr pauschal abwehrt, sondern wenn man bekömmliche und schädliche Mythensorten zu unterscheiden versucht und gegen die schädlichen antritt.
Es gibt giftige Mythen, und ich will hier zu sagen versuchen, welche das sind. Meine These – eine Arbeitshypothese – ist diese: Gefährlich ist immer und mindestens der Monomythos; ungefährlich hingegen sind die Polymythen. Man muss viele Mythen – viele Geschichten – haben dürfen, darauf kommt es an; wer – zusammen mit allen anderen Menschen – nur einen Mythos – nur eine einzige Geschichte – hat und haben darf, ist schlimm dran. Darum eben gilt: Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie. Wer polymythisch – durch Leben und Erzählen – an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach über Kreuz; wer monomythisch – durch Leben und Erzählen – nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muss, hat diese Freiheit nicht: er ist ganz und gar – sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung – mit Haut und Haaren von ihr besessen. Wegen dieses Zwangs zur restlosen Identität mit dieser Alleingeschichte verfällt er narrativer Atrophie und gerät in das, was man nennen kann: die Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nichtidentität. Den Freiheitsspielraum der Nichtidentitäten, der beim Monomythos fehlt, gewährt hingegen die polymythische Geschichtenvielfalt. Sie ist Gewaltenteilung:13 sie teilt die Gewalt der Geschichte in viele Geschichten; und just dadurch – divide et impera oder divide et fuge, jedenfalls: befreie dich, indem du teilst, d. h. dafür sorgst, dass die Gewalten, die die Geschichten sind, sich beim Zugriff auf dich wechselseitig in Schach halten und so diesen Zugriff limitieren – just dadurch erhält der Mensch die Freiheitschance, eine je eigene Vielfalt zu haben, d. h. ein Einzelner zu sein. Diese Chance hat er nicht, sobald die Gewalt einer einzigen Geschichte ihn ungeteilt beherrscht; dort – beim Monomythos – muss er die Nichtidentitätsverfassung seiner Geschichtenvielfalt vor dieser Monogeschichte auslöschen; er unterwirft sich dem absoluten Alleinmythos im Singular, der keine anderen Mythen neben sich duldet, weil er gebietet: Ich bin deine einzige Geschichte, du sollst keine anderen Geschichten haben neben mir.
Ich meine nun – denn als Opfer der Hochschuldidaktik weiß ich ja: um verständlich zu reden, soll man Beispiele bringen; aber ich bringe hier nicht nur ein Beispiel, sondern gleich das einschlägige Zentral-, Haupt- und Endspiel – ich meine also: Von dieser monomythischen Art ist der erfolgreichste Mythos der modernen Welt: der Mythos des unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Fortschritts zur Freiheit in Gestalt der Geschichtsphilosophie der revolutionären Emanzipation. Das – Lévi-Strauss nennt ihn den »Mythos der Französischen Revolution«14 – ist ein Monomythos: er duldet – antihistoristisch – keine Geschichten neben dieser einen emanzipatorischen Weltgeschichte. Hier zeigt sich: Man kann zwar die Mythen – die Geschichten – nicht abschaffen, aber man kann sie durch Etablierung eines Monopolmythos zentralisieren und dadurch entpluralisieren. Das geschieht hier: In der Mitte des 18. Jahrhunderts – Reinhart Koselleck hat das durch seine begriffsgeschichtlichen Untersuchungen gezeigt15 – proklamiert die Geschichtsphilosophie, die dort entsteht und ihren Namen bekommt, gegen den bisherigen Plural der Geschichten »die« Geschichte. Seither