Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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Das Gesamtschicksal dieser mytheninteressierten Gegenbewegung gegen den neuen Monomythos ist also offenbar nicht glücklich: Weil der Monomythos der Fortschritts-Alleingeschichte die moderne Welt unbehaglich beherrscht, suchen ihre Zeitgenossen die verlorene Polymythie in der exotischen Mythologie der Vorzeit und Fremde. Weil das – offenbar – nicht genügt, kommt es zum Versuch ihrer Verwandlung in Gegenwart; dabei jedoch hört diese alte Mythologie auf, das zu sein, um dessentwillen man sie suchte: sie verliert ihren polymythischen Charakter durch Unterwerfung unter den Monomythos des Neuen; so bestätigt sie schließlich nur dessen Macht. Es wird also hier die Gegenmaßnahme überdauert durch das, was sie auslöste: durch das Unbehagen am Monomythos. Daraus – scheint mir – folgt: Das Interesse an der exotischen – der alten und der fremden – Mythologie ist ein Symptom, aber keine Lösung.
4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Es müssen daher – um zu einer Lösung zu kommen – alternative Gegenmaßnahmen erwogen werden. Ich will auch das hier nur in der Form einer kurzen Skizze tun. Dabei verlasse ich das Themenfeld Mythos nicht, ich vergrößere nur den Aktionsradius der mythenbetreffenden Aufmerksamkeit; denn die Aufmerksamkeit nur auf die exotische – die alte und die fremde – Mythologie birgt die Gefahr, die Aufmerksamkeit auf einschlägig moderne Phänomene zu blockieren. Das führt dann zu einer künstlich halbierten Charakteristik der Gegenwart, bei der nur das gesehen wird, was ich bisher angesprochen hatte: die moderne Versachlichung, die Geschichtslosigkeit ist, und deren – dann unwiderstehlich scheinende – Kompensation durch den neuen Monomythos. Aber zur Gegenwart gehört mehr und mythologisch jedenfalls nicht nur die Monomythie; denn – das ist hier meine mythenbetreffende Abschlussthese – es gibt auch eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört: auf sie muss man setzen, um das Unbehagen am Monomythos ins Produktive zu wenden. Denn es gilt nicht nur dies: die monotheistische Entmythologisierung ist die indirekte Ermächtigung des neuen Monomythos; es gilt nämlich ebenso dies: die monotheistische Entmythologisierung lanciert gerade modern das, was sie liquidieren wollte: die Polymythie. Wie geht das zu? Vielleicht so: Der Monotheismus hat den Polytheismus und mit ihm die Polymythie entzaubert und negiert. Die moderne Welt aber beginnt – im früher angedeuteten Sinn – damit, dass sich Gott aus der Welt in sein Ende zurückzieht: also mit dem Ende des Monotheismus. Dieses Ende des Monotheismus verschafft – wie auch anderen Phänomenen, die der Monotheismus scheinbar bezwang: etwa dem Fatum – dem Polytheismus und der Polymythie eine neue Chance: es lässt – sozusagen – ihre Entzauberung bestehen, aber es negiert ihre Negation. Mit anderen Worten: gerade in der modernen Welt können Polytheismus und Polymythie – entzaubert – wiederkehren: als aufgeklärter Polytheismus und als aufgeklärte Polymythie. Ich möchte auf drei Tatbestände hinweisen, die in diesen Kontext gehören. Da ist
erstens die entzauberte Wiederkehr des Polytheismus. Der moderne – profane, innerweltliche – Aggregatzustand des Polytheismus ist die politische Gewaltenteilung: sie ist aufgeklärter – säkularisierter – Polytheismus. Sie beginnt nicht erst bei Montesquieu, bei Locke oder bei Aristoteles, sie beginnt schon im Polytheismus: als Gewaltenteilung im Absoluten durch Pluralismus der Götter. Es war der Monotheismus, der ihnen den Himmel verbot und damit auch die Erde streitig machte. Weil sich aber der christlich eine Gott, der die vielen Götter negierte, zu Beginn der Neuzeit aus der Welt in sein Ende zurückzog, liquidierte er nicht nur den Himmel; denn er machte dadurch zugleich die Erde – die Diesseitswelt – frei für eine – nun freilich entzauberte, entgöttlichte – Wiederkehr der vielen Götter. Indem der biblische Monotheismus sie aus dem Himmel vertrieb, wies er sie im Effekt nur aus auf die Erde: dort richten sie sich ein als die zu Institutionen entgöttlichten Götter Legislative, Exekutive, Jurisdiktion; als institutionalisierter Streit der Organisationen zur politischen Willensbildung; als Föderalismus; als Konkurrenz der wirtschaftlichen Mächte am Markt; als unendlicher Dissens der Theorien, der Weltsichten und maßgebenden Werte: »Die alten vielen Götter« – schreibt Max Weber – »entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.«30 Da ist
zweitens die Genesis des Individuums: es lebt von dieser Gewaltenteilung.31 Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus. Solange – im Polytheismus – viele Götter mächtig waren, hatte der Einzelne – wo er nicht durch politische Monopolgewalt bedroht war – ohne viel Aufhebens seinen Spielraum dadurch, dass er jedem Gott gegenüber immer gerade durch den Dienst für einen anderen entschuldigt und somit temperiert unerreichbar sein konnte: Es braucht ein gewisses Maß an Schlamperei, die durch die Kollision der regierenden Gewalten entsteht, um diesen Freiraum zu haben; ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität. Sobald aber – im Monotheismus – nur mehr ein einziger Gott regiert mit einem einzigen Heilsplan, muss der Mensch in dessen totalen Dienst treten und total parieren; da muss er sich ausdrücklich als Einzelner konstituieren und sich die Innerlichkeit erschaffen, um hier standzuhalten; die Allmacht konterkariert er durch Ineffabilität. Darum hat nicht der Polytheismus den Einzelnen erfunden: er brauchte es nicht, weil noch kein Monotheismus da war, der den Einzelnen extrem bedrohte. Der Monotheismus seinerseits aber hat nicht selber den Einzelnen entdeckt, sondern er – freilich gerade er – hat die Entdeckung des Einzelnen nur provoziert, weil zuerst er – der Monotheismus – dem Einzelnen wirklich gefährlich wurde. Darum konnte erst nachmonotheistisch der Einzelne offen hervortreten und – unter der Bedingung des säkularisierten Polytheismus der Gewaltenteilung – erst modern die wirkliche Freiheit haben, ein Individuum zu sein. Diese Freiheit riskiert er, wo er sich – monomythisch – einer neuen Monopolgewalt unterwirft. Fasziniert durch den neuen Mythos der Alleingeschichte bleibt er dann auf jener Strecke, die nur vermeintlich die Strecke