Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard Reclam Taschenbuch

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orientalische Prämissen; das ist sozusagen der frühe und verdeckte Versuch einer Mythologie der dritten Welt. Sie hat – meine ich – mindestens drei Stadien: zunächst die mythologische Nachtseitenforschung der klassischen Philologie von Heyne und Zoëga über Görres und Creuzer bis Bachofen; dann das – immanent exotische – Morgenländereisurrogat einer Zuwendung zur germanischen Mythologie etwa bei Wagner; schließlich – nach der Konversion sozusagen von Odin zu Mao – die sinologische Linksmorgenländerei unseres Jahrhunderts, die immer noch – trotz des Schritts von Hafis zu Ho – der Devise des Westöstlichen Divan folgt: »Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten«;26 diese mythologische Morgenländerei zerfällt heute in Maoismus und Tourismus. Ihre seriöse Überbietungsgestalt ist die strukturale Ethnologie: der Versuch insbesondere von Lévi-Strauss, vom neuen Monomythos des Neuen dadurch Distanz zu gewinnen, dass man ihn der Konkurrenz fremder – polymythischer – Mythologien aussetzt und dadurch relativiert.27 Hier rumort – Henning Ritter hat das für Lévi-Strauss gezeigt28 – allüberall das Rousseau-Interesse am guten Wilden. Und es genügt dann nicht, dass er in der Vorzeit oder den traurigen Tropen lebt: Die Nostalgie transportiert ihn – per Zitat: denn die Menschen sind zitierende Lebewesen – in die gegenwärtigste Gegenwart. Als der Bruch mit dem Etablierten durch Kleidungssitten demonstriert werden sollte, verfiel man nicht zufällig auf den Savage-look: Was da – zottig und bärtig – unter uns weilte und weilt, repräsentiert (auf der Spitze der Modernität) den bon sauvage; es ist nicht so, wie der Irrtum der Älteren es suggerieren wollte: da trotten nicht ungepflegte Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Was hier vor sich geht – die Verwandlung des Ältesten ins Modernste, die Promotion des Archaischen zum Avantgardistischen – kann man auch an anderen einschlägigen Vorgängen beobachten, etwa: Was – durchaus im Kontext der mythologischen Morgenländerei – Hegels Ästhetik als die Kunst vor den Verehrungs-, den Reverenzobjekten beim Streit zwischen »Alten« und »Modernen« – vor der »klassischen« und der »romantischen Kunstform« also – identifizierte, die im Anschluss an Creuzers Terminologie so genannte »symbolische Kunstform« der – wie Hegel sagte – »abstrakten« Kunst,29 wird spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts zur Losung der Avantgarde. Innerhalb der Ästhetik der »Kunstformen« wird sie sozusagen aus dem ersten Abschnitt zum letzten: aus der frühesten zur fortgeschrittensten Kunst. Auch sie bekommt diesen Avantgarde-Appeal freilich nur, indem sie mit dem Monomythos des Fortschritts paktiert und – als ancilla progressus – in seine Dienste tritt: er beherrscht das Feld der Gegenwart – scheint es – so sehr, dass auf diesem Felde nur noch leben darf, was sich ihm anpasst und unterwirft.

      Das Gesamtschicksal dieser mytheninteressierten Gegenbewegung gegen den neuen Monomythos ist also offenbar nicht glücklich: Weil der Monomythos der Fortschritts-Alleingeschichte die moderne Welt unbehaglich beherrscht, suchen ihre Zeitgenossen die verlorene Polymythie in der exotischen Mythologie der Vorzeit und Fremde. Weil das – offenbar – nicht genügt, kommt es zum Versuch ihrer Verwandlung in Gegenwart; dabei jedoch hört diese alte Mythologie auf, das zu sein, um dessentwillen man sie suchte: sie verliert ihren polymythischen Charakter durch Unterwerfung unter den Monomythos des Neuen; so bestätigt sie schließlich nur dessen Macht. Es wird also hier die Gegenmaßnahme überdauert durch das, was sie auslöste: durch das Unbehagen am Monomythos. Daraus – scheint mir – folgt: Das Interesse an der exotischen – der alten und der fremden – Mythologie ist ein Symptom, aber keine Lösung.

      4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Es müssen daher – um zu einer Lösung zu kommen – alternative Gegenmaßnahmen erwogen werden. Ich will auch das hier nur in der Form einer kurzen Skizze tun. Dabei verlasse ich das Themenfeld Mythos nicht, ich vergrößere nur den Aktionsradius der mythenbetreffenden Aufmerksamkeit; denn die Aufmerksamkeit nur auf die exotische – die alte und die fremde – Mythologie birgt die Gefahr, die Aufmerksamkeit auf einschlägig moderne Phänomene zu blockieren. Das führt dann zu einer künstlich halbierten Charakteristik der Gegenwart, bei der nur das gesehen wird, was ich bisher angesprochen hatte: die moderne Versachlichung, die Geschichtslosigkeit ist, und deren – dann unwiderstehlich scheinende – Kompensation durch den neuen Monomythos. Aber zur Gegenwart gehört mehr und mythologisch jedenfalls nicht nur die Monomythie; denn – das ist hier meine mythenbetreffende Abschlussthese – es gibt auch eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört: auf sie muss man setzen, um das Unbehagen am Monomythos ins Produktive zu wenden. Denn es gilt nicht nur dies: die monotheistische Entmythologisierung ist die indirekte Ermächtigung des neuen Monomythos; es gilt nämlich ebenso dies: die monotheistische Entmythologisierung lanciert gerade modern das, was sie liquidieren wollte: die Polymythie. Wie geht das zu? Vielleicht so: Der Monotheismus hat den Polytheismus und mit ihm die Polymythie entzaubert und negiert. Die moderne Welt aber beginnt – im früher angedeuteten Sinn – damit, dass sich Gott aus der Welt in sein Ende zurückzieht: also mit dem Ende des Monotheismus. Dieses Ende des Monotheismus verschafft – wie auch anderen Phänomenen, die der Monotheismus scheinbar bezwang: etwa dem Fatum – dem Polytheismus und der Polymythie eine neue Chance: es lässt – sozusagen – ihre Entzauberung bestehen, aber es negiert ihre Negation. Mit anderen Worten: gerade in der modernen Welt können Polytheismus und Polymythie – entzaubert – wiederkehren: als aufgeklärter Polytheismus und als aufgeklärte Polymythie. Ich möchte auf drei Tatbestände hinweisen, die in diesen Kontext gehören. Da ist

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