Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard Reclam Taschenbuch

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kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und wenn das so sich verhält, dann bleibt übrig für die Philosophie: gar nichts, also die reine, pure, nackte Inkompetenz, sowie – um den Sokrates zu zitieren – nur noch eine einzige ganz winzige Kleinigkeit, eine freilich sehr unsokratische Kleinigkeit, eine, die die Philosophie nicht weniger problematisch, sondern die sie vollends problematisch macht, etwas, das ich im Blick auf die radikal inkompetent gewordene Philosophie nennen möchte: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz.

      2. Über sie – also über diese Inkompetenzkompensationskompetenz – möchte ich jetzt zwei Vorbemerkungen, zwei mittlere Bemerkungen und eine Nachbemerkung machen. Sie werden – vermute ich – erst an dieser Stelle spüren, dass ich mein Thema, ein vorgegebenes wie gesagt, etwas eigenartig aufgefasst habe: nämlich mich interessiert hier nicht die Grenze zwischen dem unendlichgroßen Gebiete der Inkompetenz und dem unendlichkleinen Gebiete der Kompetenz der Philosophie, sondern mich interessiert gerade eine Nichtgrenze: die Legierung von Inkompetenz und Kompetenz, und eine derartige Legierung ist bei der Philosophie das, was ich genannt habe: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. Darüber also zunächst zwei Vorbemerkungen:

      a) Diese Inkompetenzkompensationskompetenz hat bei der Philosophie viel mit ihrer Inkompetenz zu tun: denn kompensieren muss man nur, wo etwas fehlt; und so ist denn ihre Inkompetenzkompensationskompetenz zunächst einmal ein Symptom ihrer Inkompetenz.

      b) Es gäbe sie nicht – diese Inkompetenzkompensationskompetenz –, wenn es nur die Inkompetenz der Philosophie gäbe und nicht auch ihre Kompetenznostalgie. Alle reden von Nostalgie: ich auch. Etwas zu sein: danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, dass sie sich einredet, sie sei noch etwas, wenn sie das Überflüssige ist. Sie ist zwar – als das Inkompetente – tatsächlich das Überflüssige, aber sie ist es eben nicht einfach hin, sondern sie ist kompetenznostalgisch jenes Überflüssige, das in das Nützliche verliebt ist, und zwar unglücklich. Auf die pure Überflüssigkeit sich zurückzuziehen: das hält sie gar nicht aus. Das wird zunächst bestätigt durch ein mehr rührendes Phänomen: durch den Enthusiasmus der Philosophen für unbezahlte Nebentätigkeiten. Der Mensch ist das tätige, der Philosoph ist das nebentätige Lebewesen; es blühen seine extraprofessionellen Selbstbestätigungsaktivitäten: Die Philosophen werden – dabei ist übrigens ihr bekanntes Faible für Talmijurisprudenz nur die geheime Rache der aus der Philosophie vertriebenen Mathematik für ihre Vertreibung: wo sie aus der Philosophie verschwindet, erzeugt sie jenes Vakuum, in welches dann das eindringt, was Philosophen und nur Philosophen für juristische Logik halten – die Philosophen also werden Selbstverwaltungsfetischisten, Fundamentalstatistiker, Gründungs- und Opernbeiräte, Wissenschaftstouristen, Leistungssportler des Interdisziplinären, Planungs-, Satzungs- und Gesetzesverfertiger, graue Eminenzen der Totaltransparenz, d. h. Dunkelmänner der Durchsichtigkeit, ambulante Seelentröster und Kommunalpolitiker, direkte und indirekte, gutachterliche Papierfluterzeuger, sekundäre Salonlöwen, und so fort; und sie schaffen dabei – bei diesem Sein zum Herzinfarkt auf der Suche nach der Kreislaufstörung als Beweis der eigenen Realität – allemal das, was Gehlen die Flucht in die Überarbeitung genannt hat: Ich ächze, also bin ich, und zwar nützlich. Darum – weil die Philosophen gegenwärtig als jene Überflüssigen leben, die kompetenznostalgisch in das Nützliche unglücklich verliebt sind, so dass sie ihren einschlägigen Minnedienst notfalls durch Nebentätigkeit leisten – wirkt die Überflüssigkeit als Rechtfertigungskategorie auch nur dort – wenn auch nicht perfekt – lindernd, wo eine Theorie der Nützlichkeit des Überflüssigen hinzutritt: etwa dadurch, dass man Veblens Kategorie der stellvertretenden Muße, die bei den feinen Leuten einstmals von Frauen und Dienstboten absolviert wurde, auf die Philosophen ausdehnt; denn häufig sind die Philosophen tatsächlich ebendies: stellvertretende Müßiggänger auf der Suche nach feinen Leuten; darum halten sie sich gern bei den Herrschenden auf und noch lieber bei den künftigen Herrschenden, am liebsten bei jenen künftigen Herrschenden, die auch jetzt schon herrschen, wobei der Grenzfall möglich ist, dass sie sich bei sich selber aufhalten. Der – in dieser Rolle freilich längst schon wieder durch andere überbotene – Philosoph wird Parasit als Status-Symbol. Und er symbolisiert – ob in den Herrschaftsterrains der Besitzer oder der Funktionäre: das läuft mindestens in diesem Punkt auf dasselbe hinaus – damit ja wirklich: dass des einen Leben der Tod des anderen ist, dass die Menschen vom Leiden anderer Menschen leben, die Freiheit von der Knechtschaft, die Gleichheit vom Unterschied, das Hinsehn vom Wegsehn, das Glück vom Unglück: das ist ja so und ist ja nicht nicht so. Das Parasitäre versteht sich immer von selbst: Diesen Satz nicht gelten lassen wollen und gleichwohl selbstverständlich das Parasitäre zu sein: das ist die Philosophie; und wo sie Gewissen hat, quält sie das; und wo sie ihre Kompetenzen verloren hat, aber nicht den Eindruck, dass sie hier welche haben sollte, ist sie dieser Qual unmittelbar und daher schutzlos ausgesetzt. Das, was ich Kompetenznostalgie nannte, artikuliert diese Qual und kanalisiert sie in Richtung auf Kompensationen: die Philosophie beschwichtigt sich, indem sie – angesichts dieser Qual – entweder verzweifelt nicht sie selbst oder verzweifelt sie selbst sein will; und das bedeutet: bei der Kompetenznostalgie streicht sie entweder die Kompetenz oder die Nostalgie; sie wird entweder zum Kompetenzflüchter und sucht Nostalgie ohne Kompetenz d. h. absolute Inkompetenz mit schönen Gefühlen; oder sie wird zum Kompetenzhocker und sucht Kompetenz ohne Nostalgie d. h. absolute Kompetenz mit erhabenen Ansprüchen. Dadurch will sie jener Qual des Gewissenhabens entkommen, indem sie bei seiner Anklage entweder nicht die Adresse zu sein versucht oder aber der Adressierer, entweder nicht zurechnungsfähig oder der Zurechner selber: sie entflieht dem Gewissenhaben entweder in Varianten des Gar nichts oder ins Gewissensein. Ihre Inkompetenzkompensation ist – angesichts jenes Gewissenhabens – entweder die Flucht aus ihm in jene totale Inkompetenz, die darin besteht, dass die Philosophie gar nicht präsent ist, oder die Flucht aus ihm in jene totale Kompetenz, die darin besteht, dass die Philosophie das absolute Weltgewissen wird. Der Philosoph ist dann: nur Narr, nur Richter, entweder das eine oder das andere – falls das wirklich eine Disjunktion ist. Diese beiden Möglichkeiten der Inkompetenzkompensation, die ich hier anvisiert habe: die Stilisierung der Philosophie zur absoluten Instanz oder ihre Selbstverwandlung in ein gerade noch lebensfähiges Nichts – im Grunde Ersatzgestalten und Nachfolgeformen uralter Fraktionen der Philosophie: des Dogmatismus und des Skeptizismus – möchte ich jetzt in zwei kurzen Mittelbemerkungen nacheinander einschlägig charakterisieren.

      α) Der Dogmatismus nennt sich heutzutage Kritik und ist – wie ich sagte – die Position der Totalkompetenz der Philosophie durch die Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. In Freuds Theorie der Ökonomie des Über-Ich scheint mir dieser ziemlich unbehagliche Konnex angedeutet, dass jemand, der Gewissen wird, sich dadurch die Notwendigkeit ersparen kann, Gewissen zu haben: das muss nicht so laufen, erklärt aber, warum die Kritik wohl häufig nicht wegen der Kritik, sondern gerade als Entlastung durch diesen Vermeidungsertrag attraktiv werden kann. Drum auch darf man im Hause der Kritik nicht von Entlastung sprechen: das kommt der Sache zu nahe. Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom Über-Ich dadurch, dass sie selber jenes Über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selber kein Über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die Anderen. Und die Kritik entkommt absolut, indem alle verurteilten Zustände so die Anderen werden und die Philosophie als Kritik selber das absolut Unanklagbare wird, das, was Menschen doch eigentlich nicht sein können: das Absolute, das nicht mehr gerichtet wird, weil es nur noch selber und nur noch andere richtet. Die Philosophie: sie »hatte« Gewissen, aber das hat sie, indem sie absolut vorn ist, hinter sich: stattdessen »ist« sie nun Gewissen, und zwar das absolute. Die institutionellen Konsequenzen reichen über das, was die Philosophie als Separatum betrifft, dabei natürlich weit hinaus;

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