Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

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Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt eva digital

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seiner Worte verspürte.

      Schließlich geriet das Gespräch vollends ins Stocken, minutenlang saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nicht etwa, daß sie sich im Laufe des Gespräches auseinandergeredet und sich persönlich entzweit hätten. Ganz im Gegenteil, menschlich waren sie sich beide sicherlich nähergekommen. Denn sie hatten ohne Umschweife in aller Offenheit nicht als Politiker, sondern als Männer, die um den europäischen Frieden besorgt waren, miteinander geredet, hatten dabei aber erkennen müssen, wie fast hoffnungslos groß die Schwierigkeiten waren, die sich ihnen entgegenstellten.

      Am Ende einer solchen Gesprächspause holte Herriot auf einmal tief Luft, so, als habe er sich zu einem schweren Entschluß durchgerungen. Ich fürchtete schon, er wolle Stresemann sagen, er müsse leider einsehen, daß sie beide nicht in der Lage seien, über die Ruhrräumung eine Einigung zu erzielen, und daß es besser sei, die Unterredung abzubrechen.

      Zu meiner Überraschung aber trat genau das Gegenteil ein. Irgendwie ungehemmter und befreiter, redete sich Herriot die ganze Abneigung von der Seele, die er von vornherein gegen das Ruhrabenteuer empfunden hatte. Er sei sich darüber klar, daß die jetzige Stimmung in Deutschland, über die sich Frankreich so beunruhige, letzten Endes das Werk Poincarés sei, und er stimme Stresemann durchaus darin zu, daß man durch eine vernünftige Politik die nationalistische Haltung gewisser deutscher Kreise am besten eindämmen könne. In dieser Erkenntnis wolle er daher Stresemann zusagen, daß er sich nach Paris begeben werde, um dort seinen ganzen Einfluß zugunsten einer Räumung des Ruhrgebietes, von deren Notwendigkeit er selbst überzeugt sei, geltend zu machen. Es sei durchaus ungewiß, mit welchem Erfolg er aus Paris zurückkehren werde; vielleicht werde er überhaupt nicht zurückkommen, weil er mit der Möglichkeit rechne, bei dem Vorschlag einer Ruhrräumung oder der bloßen Andeutung, daß er mit Stresemann trotz seiner gegenteiligen Zusage über diese Frage gesprochen habe, gestürzt zu werden.

      „Auf jeden Fall verspreche ich Ihnen aber, Herr Stresemann, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, Ihren begreiflichen Wunsch nach irgendeiner Abmachung über die Ruhrräumung zu erfüllen und Ihnen dadurch Ihre Stellung gegenüber Ihren eigenen Landsleuten zu stärken“, fügte er ernst hinzu. Man glaubte ihm ohne weiteres, daß er dieses Versprechen halten würde, sah ihm aber gleichzeitig die Besorgnis an, die er wegen des zu erwartenden Kampfes in Paris hegte.

      Bei diesen Worten hellte sich die vorher recht düster gewordene Atmosphäre der Unterredung zusehends auf. Mir fiel das Wort von dem Silberstreifen wieder ein. Es zeigte sich tatsächlich ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont. In Deutschland hatte man angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und der französischen Politik seit Beendigung des Krieges die Franzosen im Unterbewußtsein immer irgendwie als einer Einigung mit Deutschland abgeneigt angesehen. Nun hatte sich innerhalb von zwei Stunden bei diesem Franzosen, der uns hier gegenübersaß, das Gegenteil herausgestellt. Das war etwas, was mich mit großer Hoffnung für die Zukunft erfüllte. Daß diese Erwartungen nicht unberechtigt waren, zeigten nicht nur die nächsten Tage auf der Londoner Konferenz, sondern auch die nächsten Jahre der deutsch-französischen und europäischen Politik. Dieses wahrhaft historische erste Gespräch bewies mir, daß selbst größte Schwierigkeiten von Männern guten Willens überwunden werden können. Bildete doch diese Aussprache hinter den verschlossenen Türen des englischen Automobilclubs in London den ersten Auftakt zu jener glücklichen Entwicklung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, die gegen Ende der 20er Jahre ihre konkreten Ergebnisse zeitigte. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit wurde in dieser Stunde der Grundstein für das spätere europäische Gebäude gelegt.

      Aber auch die „Eingeweihten“, ja selbst die deutsche Delegation in London wußten zunächst nichts davon. Auf dem Rückweg ins Ritz-Hotel, den wir diesmal ohne Umwege im Wagen zurücklegten, erteilte mir Stresemann den Auftrag, eine Aufzeichnung über das Gespräch auf Grund meiner Dolmetschernotizen anzufertigen und mit niemandem, auch nicht mit dem Reichskanzler, über das Vorgefallene zu sprechen. Ich durfte meine Aufzeichnung auch nicht diktieren, sondern mußte sie mit eigener Hand niederschreiben. Stresemann wollte die zarte Pflanze der neuen Verständigungspolitik, die an die Stelle der reinen Gewaltpolitik treten sollte, vor allen schädlichen Einwirkungen schützen. Er selbst war von dem Gespräch hoch befriedigt.

      So saß ich denn am Abend jenes Augusttages in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk des Ritz-Hotels, von dem aus der Blick weit über die Dächer Londons schweifte. Ich war tief beeindruckt von der Aufgabe, die mir anvertraut worden war, von dem plötzlichen Hineingestelltsein in die große Politik, und füllte Seite um Seite meiner ersten außenpolitischen Aufzeichnung, auf die noch unzählig viele andere in den nächsten 21 Jahren folgen sollten.

      Als ich 1939 in das Ministerbüro versetzt wurde und in den Panzerschränken des historischen Zimmers der „grauen Eminenz“ in der Wilhelmstraße 76 herumstöberte, fand ich auch diese erste eigenhändige Aufzeichnung wieder. Die reichlich ungelenken Ausführungen, die ich damals als Anfänger in London niedergeschrieben hatte, machten mir deutlicher als vieles andere den ungeheuren Unterschied klar, der zwischen einem Stresemann und den „Staatsmännern“ bestand, für die ich in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg Aufzeichnungen anzufertigen hatte. Und das unerwartete Wiedersehen mit der hoffnungsvollen Zeit zu Beginn der Ära Stresemann bestärkte das Gefühl für die herannahende Katastrophe, das sich mir seit 1933 immer mehr aufgedrängt hatte.

      Herriot begab sich tatsächlich an einem der nächsten Tage nach Paris. Der Finanzminister Clémentel und der Kriegsminister Nollet begleiteten ihn. Von der Fühlungnahme zwischen Herriot und Stresemann war auch nicht das geringste in die Öffentlichkeit durchgesickert, aber mit jenem feinen Witterungsvermögen, das ich bei den großen Journalisten, mit denen ich in der Folgezeit so oft zusammengekommen bin, immer bewundert habe, schrieb die englische Presse sehr treffend, daß von Herriots Reise nach Paris Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz abhinge. Wie gut die Presse informiert war, ersah ich mit Staunen aus der Meldung einer Nachrichtenagentur, in der klipp und klar ausgesprochen wurde, daß zwischen Herriot und seinem Kriegsminister Nollet ein schwerer Konflikt in der Frage der Räumung des Ruhrgebietes ausgebrochen sei. Nollet habe sich scharf gegen jede derartige Maßnahme ausgesprochen und wolle die Räumungsfrage mit der Militärkontrolle verknüpfen, um auf diese Weise Zeit zu gewinnen.

      Daß ich voller Spannung alle Nachrichten aus Paris verfolgte, war nur natürlich. Sprechen durfte ich ja mit niemand über das, was mich bewegte, und so hatte ich um so mehr Zeit zum Nachdenken. Wie recht Herriot in seiner Beurteilung der kritischen Situation seines Kabinetts in Frankreich gehabt hatte, erfuhr ich einen oder zwei Tage nach der Unterredung aus der Äußerung eines französischen Delegationsmitgliedes, mit dem ich in einer Verhandlungspause ins Gespräch kam.

      Solche Gespräche waren nicht selten. Die jüngeren Mitglieder der französischen Delegation waren zu mir nicht nur in London, sondern auch bei späteren Gelegenheiten immer außerordentlich freundlich. Ich war nach meiner Arbeit auf der Konferenz gewissermaßen in die „Familie“ der technischen Mitarbeiter der einzelnen Delegationen aufgenommen worden. Genau so wie unsere Chefs trafen auch wir Kleineren und Kleinsten uns in der Folge immer wieder an den verschiedensten Stellen Europas zu gemeinschaftlicher Arbeit. Man wurde immer näher mit den einzelnen Sekretären und Sachverständigen der anderen Delegationen bekannt, man tauschte ungezwungen kritische Bemerkungen über die hohen Minister aus, und es bildete sich eine richtiggehende internationale Kameradschaft zwischen uns heraus. Im Laufe der Zeit gehörte ich mehreren solcher internationalen Familien an, deren Mitglieder sich in fast regelmäßigen Zeitabständen trafen.

      Da war zunächst die Reparationsfamilie, wie ich sie zum ersten Male in London kennenlernte. Dann trat später eine allgemein politische Familie in Erscheinung, mit der ich zum ersten Male in Locarno und später beim Völkerbund in Genf auf den regelmäßigen Ratssitzungen und Vollversammlungen zusammentraf. Daneben bestand noch die Wirtschaftsfamilie, deren Mitglieder sich bei den Wirtschaftsverhandlungen und Weltwirtschaftskonferenzen begegneten, und den Abschluß bildete die mit Militärs stark durchsetzte Abrüstungsfamilie. Die Minister mochten kommen

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