Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

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Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt eva digital

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nicht ganz zu Unrecht erfolgt waren, zeigte sich unterwegs. In Löhne in Westfalen hielt unser Zug gerade in dem Augenblick, als die ganze Delegation im Speisewagen beim Mittagessen saß. Die Menschen sammelten sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig in dichten Scharen, als sie Marx und Stresemann erkannten, und die Zurufe, die aus ihrer Mitte erschollen, waren wenig freundlich. Sie steigerten sich allmählich zu einem solchen Tumult, daß wir die Sonnenvorhänge herunterließen und froh waren, als der Zug ohne Zwischenfall abfuhr. Es war für mich eine sehr eindringliche Demonstration der Schwierigkeiten, mit denen die damalige politische Führung im Innern zu kämpfen hatte.

      An diese Szene habe ich noch öfter gedacht, wenn in späteren Gesprächen zwischen den Staatsmännern davon die Rede war, daß man diese oder jene Konzession, obwohl man ihre Berechtigung anerkannte, der öffentlichen Meinung nicht zumuten könne. Im Gegensatz zu späteren Zeiten hatten die Minister, unter denen ich bis 1933 arbeitete, eine Art Zweifrontenstellung einzunehmen. Zu den Schwierigkeiten dem Ausland gegenüber kamen die Rücksichten auf das Inland, die nicht weniger große Komplikationen mit sich brachten als die außenpolitischen Probleme selbst. Ein erfolgreicher Außenminister mußte gleichzeitig ein guter Kenner und Beherrscher der innerpolitischen Strömungen sein.

      Gegen Abend kamen wir nach Holland. Es war dieselbe Strecke, die ich schon vor einem Jahr unter so ganz anderen Umständen zurückgelegt hatte. Aber sie führte diesmal viel weiter, und zwar nicht nur geographisch. Um Mitternacht gingen wir in Hoek van Holland an Bord des holländischen Dampfers, der den regelmäßigen Nachtverkehr nach Harwich in England versieht. Mein gelehrter Kollege Norden erging sich in historischen Betrachtungen über „diesen ersten deutschen Kanzler, der sich über das Meer hinweg ins Ausland begibt.“

      Zum ersten Male in meinem Leben betrat ich am anderen Morgen den Boden Englands. An den fahrplanmäßigen Zug nach London wurden für uns einige Wagen angehängt und gegen 9 Uhr morgens trafen wir in London auf der Liverpool Street Station ein. An der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs hielten die Wagen, die uns ins Hotel brachten. So lernte ich gleich eine jener praktischen Einrichtungen der englischen Bahnhöfe kennen, die jedem vom Kontinent kommenden Reisenden sofort auffallen. Der Straßenverkehr geht bis unmittelbar an die Eisenbahnzüge. Auf unserem Wege zum Hotel kamen wir durch die verkehrsreichsten und um diese Morgenstunde besonders stark durch den Berufsverkehr belebten Straßen Londons.

      Michaelis eilte natürlich sofort ins Ritz-Hotel, wo die deutschen Hauptdelegierten untergebracht waren. Norden und ich aber hatten zunächst nichts zu tun und schlenderten daher in den nahe gelegenen Green Park. Hier erlebten wir mitten in dem Häusermeer von London einen regelrechten Sommertag auf dem Lande. Die Bäume des Parkes waren so dicht, daß man die Stadt nur noch wie in der Ferne erkennen konnte. Der herrliche englische Rasen bildete einen wunderbaren, grünen Teppich, ganz in der Nähe weidete sogar eine Schafherde unter Aufsicht eines richtigen Schäfers. Nur die am Rande des Green Parks als muntere, rote Tupfen durch das Grün der Blätter dahineilenden Autobusse vom Piccadilly und das in London allgegenwärtige ferne Brausen des Riesenverkehrs erinnerten uns daran, daß wir uns trotz dieses ländlichen Idylls mitten in der größten Stadt Europas befanden.

      So vergingen die ersten Tage in völliger Ruhe. Ich benutzte die Zeit, um mir von den damals noch offenen Oberdecks der Autobusse auf Kreuz- und Querfahrten durch London die Stadt gründlich anzusehen. Da traf ich eines Nachmittags auf einer dieser Besichtigungstouren ein anderes Delegationsmitglied.

      „Gehen Sie nur um Gottes willen schnell ins Ritz-Hotel“, rief er mir etwas aufgeregt zu, „Sie werden dort wie eine Stecknadel gesucht.“ Mit einem etwas schlechten Gewissen wegen meiner allzu langen Abwesenheit von der Delegation begab ich mich auf dem schnellsten Wege ins Hotel.

      Hier wurde ich sofort zu dem Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, dem späteren Staatssekretär von Schubert, geführt, der bei uns Jüngeren wegen seiner Grobheit einigermaßen gefürchtet war.

      „Wie ist das mit Ihrem Französisch?“, fragte er mich in seinem üblichen barschen Ton ziemlich unvermittelt, als ich zu ihm ins Zimmer trat. Da ich über mich selbst kein Werturteil abgeben wollte, erklärte ich nur, daß ich auch für Französisch zuständig sei.

      „Dann müssen Sie gleich heute abend zur Konferenz mitkommen“, erklärte er mir darauf um einige Grade freundlicher, „es hat einen unangenehmen Zwischenfall mit Michaelis gegeben, wir werden ihn deshalb ablösen müssen, und Sie sollen an seine Stelle treten!“ Damit war die Unterredung beendet, und ohne daß ich wußte, wie mir geschah, stand ich schon wieder draußen auf dem Korridor. Sehr nachdenklich trat ich den Rückweg in mein Hotel an.

      Dort erfuhr ich von Norden und anderen, was es mit dem Zwischenfall auf sich hatte. Das zeigte mir gleichzeitig, was man als Dolmetscher bei solchen Konferenzen über heikle politische Themen für Unheil anrichten kann.

      Ich habe schon angedeutet, wie sehr die Franzosen darauf bedacht waren, das Thema der Konferenz auf die Reparationsfrage zu beschränken. Sie wollten unter allen Umständen eine Erörterung der politischen Probleme vermeiden. Auf deutscher Seite herrschte natürlicherweise genau die entgegengesetzte Tendenz. Es handelte sich also für Marx und Stresemann darum, mit allergrößter Vorsicht dieses politische Thema, d. h. im wesentlichen die Ruhrfrage, in der Eröffnungsansprache wie in einer Ouvertüre zunächst mit einigen Takten lediglich aufklingen zu lassen, um es späterhin, in den folgenden Phasen der Verhandlung, als Thema weiterzuentwickeln und schließlich zur eingehenden Beratung zu bringen.

      Nach diesem Rezept war nun auch Marx bei seinen Eröffnungsworten verfahren. Er hatte übrigens gleich am ersten Tage durch sein ruhiges, zurückhaltendes Wesen und seine gemäßigte Sprache einen ausgezeichneten Eindruck auf die übrigen Konferenzteilnehmer gemacht. Leise und vorsichtig hatte er in einem Satz bemerkt, es müsse bei der Erörterung der Einzelpunkte des Reparationsproblems im Rahmen des Dawes-Berichtes natürlich auch von der Ruhr gesprochen werden. Michaelis hatte zwar alles genau und richtig übersetzt, aber er hatte sich bei dem Passus über das Ruhrgebiet etwas im Ton vergriffen und, wohl unter dem Einfluß des jeden Deutschen in dieser Frage beherrschenden Gefühls, mit etwas zu viel Nachdruck auf französisch gesagt: „Und von der Ruhr … muß selbstverständlich ebenfalls gesprochen werden“. Ich war zwar bei dem Vorfall nicht zugegen, aber wenn er mit Herriot etwa so gesprochen haben sollte wie mit mir vor einem Jahre in den Twee Steden und im Friedenspalast im Haag, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, warum der französische Ministerpräsident bei diesen Worten meines Kollegen in äußerste Aufregung geriet, die Übersetzung unterbrach und sogar drohte, sofort abzureisen, wenn noch ein einziges Wort von der Ruhr gesprochen würde.

      Daß darüber allseitige Bestürzung herrschte, war nicht verwunderlich. Besonders die Engländer, denen auch aus innerpolitischen Gründen an einem Gelingen der Konferenz und an einem außenpolitischen Erfolg der Labourregierung lag, waren äußerst beunruhigt. Sie verlangten die Ablösung des deutschen Dolmetschers.

      Ich bin übrigens überzeugt, daß man allerseits froh war, einen Sündenbock in dem unglücklichen Dolmetscher gefunden zu haben, und daß man durch seine Beseitigung gewissermaßen auch den politischen Stein des Anstoßes symbolisch aus dem Wege räumen konnte. Ich habe in späteren Jahren, besonders im Völkerbund, aber auch bei anderen Gelegenheiten diese nützliche Rolle des Dolmetschers als Blitzableiter und Abladeplatz für schlechte Laune noch reichlich kennengelernt.

      Die Geschichte war natürlich nach wenigen Stunden in aller Munde. Besonders die Journalisten bemächtigten sich dieses Zwischenfalles, der ja vielleicht besser als viele Worte die Schwierigkeiten beleuchtete, die auf der Konferenz zu überwinden waren. In Berlin erschienen sogar einige Zeitungen mit dicken Überschriften von dem „versagenden deutschen Dolmetscher“, und da der Name diskreterweise nicht genannt wurde, erhielt ich einige Tage später aus Deutschland einige besorgte Anfragen von Freunden, die schon gefürchtet hatten, daß ich bei der ersten Gelegenheit Schiffbruch erlitten hätte. Übrigens hatte auch der englische Dolmetscher, der MacDonalds Rede ins Deutsche

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