Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

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Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt eva digital

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Rücktritt zu erklären.

      Nun bildete Dr. Stresemann als Reichskanzler eine Regierung der großen Koalition aus Sozialdemokraten, Zentrum, Demokraten und Deutscher Volkspartei. Er griff sofort in die außenpolitische Entwicklung ein. Es entstand eine Art Zwiegespräch zwischen ihm und Poincaré, in dem jeder in öffentlichen Reden auf die Äußerungen des anderen einging. Durch meine Tätigkeit im Sprachendienst konnte ich die dramatischen Wendungen dieses „Ferngespräches“ genau verfolgen. Noch heute ist mir die Unnachgiebigkeit Poincarés deutlich im Gedächtnis. Seine Äußerungen liefen immer wieder darauf hinaus, daß Frankreich das sogenannte „produktive Pfand“ der Ruhr – das ja infolge des passiven Widerstandes längst aufgehört hatte, produktiv zu sein – nicht eher aus der Hand geben würde, als bis sämtliche Reparationen von Deutschland gezahlt wären. Da die Reparationssumme aber noch gar nicht festgesetzt war, bedeutete dies natürlich, daß Frankreich auf unbestimmte Zeit im Ruhrgebiet bleiben würde. Poincaré hatte noch eine weitere Bedingung gestellt, die Abrüstung Deutschlands. Erst wenn die Kontrollkommission bestätigte, daß diese Abrüstung beendet sei, würde für Frankreich der Augenblick gekommen sein, über die Räumung mit sich reden zu lassen. Wenn sich so Satz um Satz und Wort um Wort die Starrheit Poincarés aus den Übersetzungen enthüllte, wurde mir jedesmal eindringlicher die ganze Hoffnungslosigkeit der deutschen Lage klar. Es schien tatsächlich, als sei das Ende Deutschlands gekommen. Ich hätte mir damals in den dunklen Stunden der Nachtarbeit, die uns oft bis in den frühen Morgen hinein beschäftigte, nicht träumen lassen, daß sich doch noch alles wenden und ich in weniger als einem Jahr mit Engländern, Franzosen und Belgiern in London am Verhandlungstisch sitzen würde.

      Stresemann steuerte von vornherein in seinen Reden, die wir für das Ausland in vier Sprachen übersetzten und die uns ebenfalls manche schlaflose Nacht bereiteten, auf dieses Ziel zu. Er bot Frankreich als Ersatz für das unproduktive „produktive Pfand“ andere umfassendere Sicherheiten und deutete dabei an, daß die deutschen Eisenbahnen und die gesamte deutsche Industrie diesen Zwecken nutzbar gemacht werden könnten, und daß es besser sei, die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und zu stärken, als durch Beschlagnahme des wichtigsten Bestandteils der deutschen Industriekapazität, der Ruhr, den wirtschaftlichen Ruin des Reiches herbeizuführen und damit Deutschlands Gläubiger mit Sicherheit um jede Aussicht auf irgendwelche Reparationen zu bringen.

      In seinen verschiedenen öffentlichen Äußerungen variierte Stresemann sehr geschickt dieses Thema und bewegtesich langsam tastend auf sein Zielzu. Zunächst jedoch völlig ohne Erfolg, denn als einzige Antwort auf all diese Anregungen ertönte immer nur wieder Poincarés stereotypes: „Nein, wir wollen das, was wir in der Hand haben, unter keinen Umständen preisgeben.“

      Stark unterstützt wurde der deutsche Außenminister von der englischen Presse, die mit wachsender Eindringlichkeit in Artikeln damals den Abbruch des Ruhrabenteuers von Frankreich forderte. Sie führte dabei eine Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und spiegelte einen fast vollständigen Bruch zwischen den beiden Bundesgenossen aus dem Weltkriege wider, der durch die offiziellen Beteuerungen des englischen Auswärtigen Amtes wenig überzeugend für uns Deutsche verdeckt werden sollte.

      Schließlich aber war die deutsche Widerstandskraft am Ende. Noch einmal machte Stresemann einen Versuch, England zum Eingreifen zu veranlassen. Auch dieser dramatische Schriftsatz ging durch meine Hände, ebenso wie die sofort darauf erfolgende völlig niederschmetternde Antwort von jenseits des Kanals: Deutschland müsse zuerst den passiven Widerstand aufgeben. Gleichzeitig erhob die britische Regierung den Vorwurf, daß ihre früheren Ratschläge, das Reich solle auf den passiven Widerstand verzichten, solange er noch den Wert eines Verhandlungsobjektes besäße, gegen dessen Aufgabe man Konzessionen eintauschen könnte, in den Wind geschlagen worden seien. Aus den teilweise recht unfreundlichen Formulierungen war ersichtlich, daß wir auf England nicht rechnen konnten.

      Die Lage war also hoffnungslos. Da traf in letzter Minute ein Brief von Professor Haguenin ein, der schon vor dem Weltkriege an der Berliner Universität tätig gewesen war und unmittelbar danach als französischer Vertreter in Deutschland fungiert hatte. Er kannte Stresemann und wußte um dessen Ansichten über eine deutsch-französische Verständigung. Er gab daher seiner Freude über die Ernennung Stresemanns zum Reichskanzler Ausdruck und bot gleichzeitig seine guten Dienste in Frankreich an, falls man ihn brauchen könnte.

      Wir hörten nach einigen Tagen, Stresemann habe dieses Angebot angenommen und Haguenin sei tatsächlich bis zu Poincaré vorgedrungen; er habe aber nichts erreichen können. Völlig niedergeschlagen, so hieß es dann, sei Haguenin aus Paris zurückgekehrt.

      „Wir verstehen nicht zu siegen“, soll er in seiner Enttäuschung über die französische Unnachgiebigkeit gesagt haben. „Die Völker drücken sich manchmal in einer Sprache aus, für die es keine Übersetzung gibt. Vielleicht können überhaupt nur einzelne Menschen die Schranken von Nation zu Nation überspringen.“

      Damit war nun auch der letzte Versuch gescheitert. Bei uns im Sprachendienst setzte völlige Ruhe ein. Wir bekamen nichts mehr zu übersetzen. Es war ein unheimlicher Zustand nach der Überfülle der Arbeit in den letzten Wochen. Nachdem wir im Anschluß an jede Übersetzung einer weiteren Rede Stresemanns und immer neuer Vorschläge und Anregungen voller Spannung auf Poincarés Gegenäußerung gewartet hatten und diese dann immer wieder wie ein kalter Wasserstrahl mit einem kompromißlosen Nein in unseren Arbeitsraum drang, waren wir jetzt durch die lautlose Stille noch beunruhigter als vorher durch die ungleiche Diskussion.

      Zwar ahnten wir, wie die meisten Deutschen, was kommen mußte. Als wir eines Morgens Ende September unseren Dienst antraten, erfuhren wir, daß der passive Widerstand aufgegeben worden sei. Es war Frankreich gegenüber eine fast so bedingungslose Kapitulation wie die von 1945. Dennoch war dieser Augenblick des tiefsten Zusammenbruches gleichzeitig der Wendepunkt zur Besserung.

      Das Haupthindernis, mit Frankreich und vor allem mit England ins Gespräch zu kommen, war damit beseitigt. Der Preis war freilich außerordentlich hoch, besonders für Stresemann persönlich. Haß und Verachtung brandeten von allen Seiten gegen ihn an. Das wurde besonders deutlich, als er Anfang Oktober nach der Umbildung seines Kabinetts vor dem Reichstag erschien, um sich wegen des Fehlschlagens seiner Politik zu rechtfertigen. Wieder übersetzten wir unter Heranziehung aller verfügbaren Mitarbeiter seine Ausführungen für das Ausland. Deutlich entsinne ich mich noch der Stellen, in denen er mit großem Mut unumwunden zugab, daß er in dem Bemühen, aus dem Verzicht auf den passiven Widerstand außenpolitisches Kapital zu schlagen, gescheitert sei. „Wir haben einen Mißerfolg erlitten“, erklärte er ohne Umschweife.

      Meiner Erinnerung nach hat es nach ihm keinen deutschen Staatsmann wieder gegeben, der mit so vorbehaltloser Offenheit von seinen eigenen Mißerfolgen gesprochen hat. Wie anders verhielt sich die deutsche Staatsführung bei jener späteren Kapitulation des Jahres 1945! Welche Abgründe trennen die „Staatsmänner“ von 1945 von dem aufrechten Mann von 1923, der zwar – völlig ohne eigene Schuld, denn er war erst kurze Zeit Reichskanzler – auch kapitulieren mußte, aber sich sofort danach mit Mut und Geschick an den Wiederaufbau machte. Vor allem mit Mut. Wie oft habe ich, besonders in den Jahren nach 1933, gerade an diese Reichstagsrede Stresemanns gedacht. Seine Worte sind mir noch heute genau so im Gedächtnis, wie ich sie damals übersetzen mußte: „Der Mut, die Aufgabe des passiven Widerstandes verantwortlich auf sich zu nehmen, ist vielleicht mehr national als die Phrasen, mit denen dagegen angekämpft wurde. Ich war mir bewußt, daß ich in dem Augenblick, wo ich das tat, als Führer meiner Partei, die nach einer ganz anderen Richtung eingestellt war, damit nicht nur vielleicht die eigene politische Stellung in der Partei, ja, das Leben auf das Spiel setzte. Aber was fehlt uns im deutschen Volke? Uns fehlt der Mut zur Verantwortlichkeit.“

      Neben dem Mut zur Verantwortlichkeit stand das diplomatische Geschick Stresemanns, das diese Kapitulation schließlich doch noch zum Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg seines darniederliegenden Landes machte. Ich habe in der Folge noch oft Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaft bei ihm zu bewundern. Ich habe neben ihm

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