Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Das Reich befand sich im Sommer 1923 auf dem Höhepunkt des Ruhrkonfliktes. Seit dem 11. Januar hatte Poincaré dieses auch nach dem ersten Weltkrieg im Vordergrund der Politik stehende reichste Gebiet Deutschlands besetzt. Der Anlaß war ein geringfügiger Verzug des Reiches in den Reparationslieferungen an Kohle und Holz. Der eigentliche Grund des französischen Vorgehens war aber bereits damals die Sorge Frankreichs um die „sécurité” und sein Wunsch, die Kohlen- und Koksversorgung der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie sicherzustellen sowie sich der Industriekapazität des Ruhrgebietes zu bemächtigen.
Poincaré hatte durch seine Ruhraktion das deutsche Volk in seltener Weise von links bis rechts geeinigt. Industrielle und Arbeiter des Ruhrgebietes setzten dem französischen Vorgehen den passiven Widerstand entgegen und brachten dadurch Frankreich zu dessen Überraschung um die wirtschaftlichen Früchte seines Unternehmens. Industrielle, wie Krupp und Thyssen, wurden von Militärgerichten der Besatzungsarmee zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, genau so wie Arbeiter wegen Ungehorsams gegen die Verordnungen der Besatzungsbehörden zur Verantwortung gezogen wurden. Das Ruhrgebiet war durch eine Zollgrenze fast so hermetisch vom übrigen Deutschland abgeschlossen wie nach 1945 die Ostzone durch den Eisernen Vorhang. Die Eisenbahnen wurden von französischem und belgischem Personal betrieben.
Gleichzeitig erreichte die Markentwertung, nicht zuletzt infolge der Subventionierung des Ruhrwiderstandes durch die deutsche Regierung, ein immer gigantischeres Ausmaß. Milliardenscheine wurden zu Kleingeld, von einem Tage zum anderen verdoppelten sich die Preise und stiegen innerhalb einer Woche oft auf das Zehnfache. Ich hatte daher nicht ohne Grund zu träumen geglaubt, als ich in den Schaufenstern im Haag plötzlich wieder Preisschilder mit einstelligen Zahlen und Pfennigoder vielmehr Centbeträgen erblickte. Um so jäher war jetzt in Berlin das Erwachen aus diesem Traum. Nach dem ruhigen Selbstbewußtsein, das sich in den Gesichtern der Holländer widergespiegelt hatte, empfand ich jetzt auf einmal die unstete Hast, die meine Berliner Landsleute zur Schau trugen, um so stärker. Wie aus einem überheizten Dampfkessel schlug mir die Krisenatmosphäre in Deutschland entgegen; die Katastrophe lag in der Luft.
Auch politisch schien das Ende des Reiches nahe zu sein. Anfang des Jahres war das Memelgebiet verlorengegangen, später wurden in Sachsen und Thüringen kommunistische Regierungen gebildet, die sich offen den Anordnungen der Reichsregierung widersetzten. Bayern wollte sich ebenfalls von Berlin trennen. Im November machte Hitler seinen mißglückten Putschversuch, und die Bayern dachten sogar daran, nach Berlin zu marschieren, um dort Ordnung zu schaffen. Im Westen drohte der Separatismus. Finis Germaniae hieß es allenthalben.
Das Jahr 1923 bildete einen Tiefpunkt, der viel einschneidender war als alles, was sich bisher nach 1918 ereignet hatte. Er wurde in der späteren Zeit nur von der Katastrophe von 1945 übertroffen. Gleichzeitig aber war 1923 der Wendepunkt. Aus dem Abgrund, in den es hinabgestürzt war, erhob sich das Reich im zweiten Teile dieses Jahres wieder und begann seinen langsamen, mühevollen, aber stetigen Aufstieg, den ich im einzelnen aus nächster Nähe von der Diplomatie her miterlebte.
Zunächst aber mußte ich nach dem „Examen“ im Haag noch meine mündlichen Prüflingen an der Universität Berlin ablegen, die ich wegen der Haager Reise aufgeschoben hatte. Aus der internationalen Welt des Ständigen Gerichtshofes kehrte ich für kurze und auch recht bewegte Tage wieder in die akademische Atmosphäre zurück; anstatt mich mit völkerrechtlichen Formulierungen in französischer Sprache zu beschäftigen, mußte ich über die altenglischen Verse des Beowulf-Liedes, über Chaucers mittelenglische Canterbury Tales, über Altprovenzalisch, Mittelfranzösisch, über historische Grammatik und die spanische Phraseologie von Cervantes Auskunft geben; anstatt der modernen völkerrechtlichen Theorien beschäftigten mich jetzt wieder für einige Tage die alte und die neue Philosophie in dem mündlichen Examen, das ich Ende Juli, durch das holländische Erlebnis noch etwas verwirrt, nicht gerade mit Glanz bestand. Als frisch gebackener Doktor der Philosophie wurde ich dann am I. August in die Sprachenabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin übernommen.
Hier geriet ich sofort mitten in den Strudel der damals besonders spannungsreichen Außenpolitik. Zunächst allerdings nur auf schriftlichemWege, denn der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes war die Stelle, durch welche sämtliche fremdsprachlichen Dokumente und Auslandsberichte gingen. Ebenso wurden auch alle deutschen amtlichen Schriftstücke ins Französische und Englische oder auch ins Italienische und Spanische übersetzt, die für das Ausland bestimmt waren. Die Abteilung stand unter der Leitung eines meiner Universitätslehrer vom romanischen Seminar der Universität Berlin, des Geheimrats Gautier. Sie war damals im Vergleich zu ihrem späteren Umfang noch recht klein. Sämtliche Übersetzer, ungefähr ein halbes Dutzend, hatten im obersten Stockwerk des historischen Hauses Wilhelmstraße Nr. 76 in einem bibliothekartigen Raum an einer Hufeisentafel Platz. Bei großen Gelegenheiten, wenn es sich darum handelte, Reden des Reichskanzlers oder des Außenministers für die ausländische Presse zu übersetzen, oder während der Verhandlungen mit dem Sachverständigenausschuß für die Reparationsfrage, für den viele Memoranden über die deutsche Wirtschafts- und Finanzlage zu übersetzen waren, wurde die Zahl durch zeitweilige Mitarbeiter fast verdreifacht.
Unter diesen befand sich schon zur damaligen Zeit eine ganze Reihe von Engländern, Franzosen, Italienern und Spaniern. Geheimrat Gau tier stand mit Recht auf dem Standpunkt, daß Übersetzungen in eine fremde Sprache am besten von Leuten angefertigt werden, die diese Sprache als Muttersprache beherrschen. Von Außenstehenden sind oft wegen der Beschäftigung von Ausländern im deutschen Auswärtigen Amt Bedenken laut geworden. Dabei wurde meist übersehen, daß die fremden Mitarbeiter ja nur mit Dingen zu tun hatten, die ohnedies für das Ausland bestimmt waren oder vom Ausland kamen. Tatsächlich ist mir während meiner ganzen Dienstzeit kein Fall bekanntgeworden, in welchem die Verwendung von ausländischen Hilfskräften zu irgendwelchen unliebsamen Vorkommnissen geführt hätte.
Dem Ausländer stand jeweils ein deutsches Mitglied des Sprachendienstes zur Seite, um dafür zu sorgen, daß der deutsche Originaltext von dem Ausländer nicht falsch verstanden wurde und die Übertragung nicht nur wörtlich und idiomatisch richtig, sondern auch sinngemäß erfolgte. Bei umfangreichen Texten, die schnell fertiggestellt werden mußten, wurden mehrere solcher deutsch-englischen, deutsch-französischen oder deutschspanischen Arbeitsgruppen gebildet. Ein ebenfalls aus einem Deutschen und einem Ausländer bestehendes Redaktionskomitee vereinheitlichte deren Übersetzungen zum Schluß und brachte sie in die endgültige Form. Dieses System hat sich während der ganzen 25 Jahre meiner Tätigkeit immer wieder gut bewährt. Es war ein sicheres und unfehlbares Mittel zur Herstellung einwandfreier fremdsprachlicher Texte.
Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, durch meine Übersetzungstätigkeit an dem deutsch-französischen Rededuell teilzunehmen, in dem auch England gelegentlich durch Äußerungen seiner Staatsmänner seine Stimme hören ließ.
Kurz nach meinem Eintritt in das Auswärtige Amt war die Regierung Guno, Mitte August, gestürzt worden. Einer der Gründe dafür war eine Note, die wir im Sprachendienst nach ihrer Veröffentlichung übersetzt hatten. Sie war einige Zeit vorher von dem englischen Außenminister, Lord Curzon, an Poincaré gerichtet worden. Gurzon hatte zwar den Franzosen die Widerrechtlichkeit der Ruhraktion auf Grund eines Gutachtens der höchsten juristischen Autoritäten in Großbritannien bescheinigt und auch sonst noch einige für französische Ohren sehr unangenehme Wahrheiten über die wirtschaftliche Nutzlosigkeit des französischen Vorgehens ausgesprochen und auf ihre Nachteile für die zukünftige Entwicklung hingewiesen. Gleichzeitig aber hatte er auch erklärt, es wäre falsch anzunehmen, England beabsichtige, Deutschland aus den von ihm selbst mit verschuldeten Schwierigkeiten herauszuhelfen. Gegen seine Alliierten würde Großbritannien nichts unternehmen.
Die Regierung Cuno, welche die ganze Zeit über