Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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„Mit Locarno muß eine neue Epoche anfangen, sonst ist es eine leere Geste gewesen“, erklärte Briand. „Weder Sieger noch Besiegte“, wiederholte Chamberlain. „Wir haben die Verantwortung für dieParaphierung der Verträge übernommen, weil wir glauben, daß nur auf dem Wege friedlichen Nebeneinanderlebens der Völker jene Entwicklung gesichert werden kann, die für keinen Erdteil so wichtig ist wie für das große europäische Kulturland“, hatte Stresemann ausgerufen. „Locarno ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer Periode vertrauensvoller Zusammenarbeit“, hatte Chamberlain noch einmal zum Schluß nach der Paraphierung unter dem brausenden Beifall aller Anwesenden verkündet.
Durch die an dem warmen Oktoberabend weit geöffneten Fenster des kleinen Saales drang der Beifall auf den Vorplatz hinaus, auf dem sich schon seit Stunden eine erwartungsvolle, dicht gedrängte Menge versammelt hatte. Sie nahm ihn auf, und bald wurde im Saal jede Unterhaltung durch das brausende Rufen und Beifallsklatschen unmöglich gemacht, das von draußen hereindrang. Im selben Augenblick begannen die Glocken von Madonna del Sasso zu läuten und am Ufer des Sees stiegen die ersten Raketen eines großartigen Friedensfeuerwerkes auf. Stürmisch verlangte die Menge die Delegierten zu sehen. Luther, Stresemann, Briand und Chamberlain traten auf den schmalen Balkon. Der Beifall wuchs zum Orkan.
Ich konnte die ganze Szene von einem anderen Fenster des Saales aus gut überblicken. Gleichzeitig bemerkte ich auch, daß sich die Vertreter der kleineren Mächte, wie von einem Magnet angezogen, möglichst unauffällig auf die Balkontür zu bewegten, um sich auch ihrerseits der jubelnden Menge zeigen zu können. Mit der unbekümmertsten Miene der Welt gingen sie im Gespräch mit anderen Konferenzteilnehmern, die offensichtlich dasselbe Ziel verfolgten, langsam, wie zufallig, auf den Balkon zu, um dann dicht vor dem Ziel den Gesprächspartner unvermittelt stehen zu lassen und mit einem strahlenden Siegerlächeln auf den Balkon hinauszustürzen.
Nachdem auf diese Weise auch die „Kleinen“ zu ihrem Recht gekommen waren, fand im Saal die allgemeine Verabschiedung statt, und unsere Delegation verließ das Haus. Als wir mit Stresemann und Luther die wenigen Stufen der kleinen Freitreppe hinabstiegen, brauste der Beifall der Menge erneut auf. Dann wurde es plötzlich ganz still. Alle Männer nahmen den Hut ab und bildeten ein schweigendes, ergriffenes Spalier, durch das wir, tief beeindruckt, zu unseren Wagen gingen, um ins Esplanade zurückzufahren.
Aus dem sonnigen Süden kehrten wir zurück in den kalten Norden. Hier war der Bahnhof wieder abgesperrt, aber nicht wegen jubelnder Menschenmengen. Die Deutschnationalen hatten in ihrer großen Presse Sturm gegen das Abkommen gelaufen. Wir hatten schon im Zuge ihre wütenden Angriffe gegen Luther, vor allem aber gegen Stresemann in den Zeitungen lesen können. Wieder verbreitete sich die Attentatsfurcht in der Delegation, und die Namen Rathenau und Erzberger tauchten wieder in den Gesprächen auf. Auf dem Potsdamer Bahnhof erwartete uns das Diplomatische Corps, und der englische Botschafter Lord D’Abernon richtete im Auftrage Chamberlains an Luther und Stresemann folgende Worte: „Ich bin ausdrücklich von Herrn Chamberlain beauftragt, Sie zum Erfolg der Konferenz in Locarno zu beglückwünschen … Der deutschen Regierung wird immer die Ehre bleiben, die Initiative ergriffen zu haben, welche zum Vertrag von Locarno geführt hat.“
In den nächsten Wochen wurde der Vertrag dann trotz der Obstruktion der Deutschnationalen, die ihre Minister aus dem Kabinett zurückzogen und Stresemann wüst beschimpften, vom Reichstag angenommen und fand bei der großen Mehrheit des deutschen Volkes aufrichtige Zustimmung. Allenthalben herrschte das Gefühl, welches durch die Haltung des offiziellen und inoffiziellen Auslandes noch bestätigt wurde, daß Deutschland nunmehr wieder als moralisch Gleichberechtigter in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen worden war. Jeder, der wie ich, viel im Auslande zu tun hatte, merkte im Kleinen wie im Großen diesen Stimmungsumschwung fast täglich. Es war tatsächlich ein neuer Geist auch im persönlichen Verkehr mit den Ausländern eingezogen, und in dieser Beziehung war der später sooft bespöttelte „Geist von Locarno“ durchaus eine Realität.
Auch auf dem Gebiete der Politik hat er, wenn auch für die begreiflicherweise ungeduldigen Deutschen nicht immer schnell genug, seine Wirkung getan. Ich habe das persönlich auf den Konferenzen und Besprechungen der folgenden Jahre sehr genau miterlebt. Wenn man sich heute die Kritik vergegenwärtigt, welche damals die Rechtsparteien an Locarno und an Stresemann übten, und damit die Ergebnisse vergleicht, die Jahr um Jahr durch den Geist dieses Vertrages erzielt wurden und schließlich dazu führten, daß das gesamte besetzte Gebiet fünf Jahre vor der festgesetzten Zeit von der Besatzung befreit wurde, dann kann man über den Kleinmut und die Kurzsichtigkeit der damaligen Opposition eigentlich nur lächeln.
Sein Ende fand Locarno an jenem 7. März 1936, an dem Hitler in selbstherrlicher Unkenntnis der psychologischen Realitäten durch seinen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone das Rheinland zum zweiten Male „befreite“ und damit ein weiteres Glied an die Kette jener Uber-raschungsaktionen fügte, die letzten Endes zu einer erneuten Besetzung, diesmal des ganzen Reichsgebietes, durch die vier Alliierten des Zweiten Weltkrieges geführt haben. In dieser „Befreiungsaktion“ wurde er zum Unglück der beiden Vertragspartner von Locarno, Deutschland und Frankreich, zum Unglück Europas und der ganzen Welt, unterstützt durch die Haltung derselben Mächte, die damals im Rathaus von Locarno ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzten, der das gewaltsame Vorgehen eines Friedensstörers wie Hitler unmöglich machen sollte.
Unbegreiflich wie an jenem schwarzen Tage im März 1936 ist mir auch heute noch die Passivität Frankreichs und Englands, denen auf Grund der am Lago Maggiore getroffenen Regelung sehr wohl die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, durch ein sofortiges Einschreiten der Tollkühnheit des „Staatsmannes“ Hitler einen energischen Riegel vorzuschieben und damit dem Lauf der Geschichte eine andere Richtung zu geben. Hitler selbst hat in meiner Gegenwart einmal erklärt, daß die 24 Stunden nach dem Einmarsch in das Rheinland zu den aufregendsten seines ganzen Lebens gehort hätten. „Wären die Franzosen damals nach Deutschland eingerückt, so wie ich es während dieser 24 Stunden für möglich hielt, dann hätte ich mich mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen.“ Ich kann mir keinen stärkeren Beweis für die friedensichernden Qualitäten der Vertragsbestimmungen von Locarno vorstellen als diesen Ausspruch des deutschen Diktators.
Derselbe Botschaftsrat Forster, der am 9. Februar 1924 das von mir übersetzte Locarno-Memorandum Herriot überreicht hatte, vertrat übrigens in einem Bericht, zu dem er kurz vor der geplanten Aktion Hitlers vorsorglich aufgefordert worden war, von Paris aus die Auffassung, daß die Franzosen marschieren würden. Er wurde selbstverständlich sofort danach kaltgestellt, als sich seine Voraussage nicht erfüllte. „Wenn Frankreich nur im geringsten auf seine Sicherheit bedacht ist, dann muß es jetzt unbedingt handeln“, so hatten auch wir damals im Auswärtigen Amt argumentiert. Durch das Ausbleiben der von Vielen erwarteten Folgen der Rheinlandaktion Hitlers stieg dessen Prestige genau so, wie das Ansehen derjenigen sank, welche die Entschlossenheit Frankreichs und Englands falsch eingeschätzt hatten.
5
TRÜBER TAG IN GENF (1926)
„Mit Locarno muß eine neue Epoche anfangen“, hatte Briand im Oktober am Lago Maggiore erklärt. „Locarno ist nicht das Ende, sondern nur der Anfang einer Periode vertrauensvoller Zusammenarbeit“, hatte Chamberlain in der historischen Schlußsitzung ausgerufen. Aber auf die sonnigen Tage von Locarno folgte das trübe, unfreundliche Wetter von Genf, aus der vertrauensvollen Zusammenarbeit der neuen Ära schien wieder das mißtrauenerfüllte Verhältnis der vergangenen Jahre geworden zu sein. Wie auf London, folgte auch auf Locarno ein Wettersturz, der seinen Tiefpunkt im März des folgenden Jahres in Genf erreichte.
Ich war zu dieser Zeit wieder bei der Wirtschaftsdelegation in Paris und erhielt mit einer Plötzlichkeit, die zu meinem