Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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So reiste ich denn mit einem lachenden und einem weinenden Auge nach Genf. Mit dem Orientexpreß fuhr ich vom Gare de Lyon ab. „Istamboul“, „Bucuresti”, „Beograd”, „Athènes”, stand es bedeutungsvoll an seinen blauen Schlafwagen. Schon auf dem Bahnsteig schien das Französische vor den fremdartigen, meist slawisch klingenden Lauten der nach Pariser Mode aufgemachten Balkanfahrgäste völlig zurückzutreten. Außer mir war kein Deutscher weit’und breit zu hören und zu sehen.
Beim Morgengrauen eines trüben Tages, bei Schnee und Regen und kaltem Wind traf ich fröstelnd am damals weltberühmten Sitz des Völkerbundes ein. Genf präsentierte sich von seiner unfreundlichsten Seite. Welch ein Gegensatz zu meiner letzten Konferenz im Süden! Und genau der gleiche Gegensatz herrschte auch, wie ich sehr bald bemerken sollte, in der politischen Atmosphäre. Dieser trübe Tag .war ein Symbol für den ganzen Verlauf der dortigen Verhandlungen, die sich über zehn Tage hinzogen und mit einer Sensation im Negativen endeten.
Über die Montblanc-Brücke, auf der der Sturm vom Genfer See das Taxi fast umzuwerfen drohte, fuhr ich durch die regennassen Straßen in das Hôtel Métropole, in dem die deutsche Delegation wohnen sollte. Die Herren aus Berlin kamen erst am Abend, so daß ich den ganzen Tag über Zeit hatte, mich in der echt schweizerischen Hotelatmosphäre des großen Hauses wohlzufühlen.
Als Luther und Stresemann dann abends eintrafen, brachten sie gleich die erste Sensation mit. Sie hatten unterwegs ein Telegramm von der deutschen Botschaft in Paris erhalten, wonach Briand von der Kammer gestürzt worden war … Allgemeines Rätselraten, was nun aus der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund werden würde. Würde Briand unter diesen Umständen überhaupt nach Genf kommen? Schon damals sorgten, wie heute, die französischen Kabinettskrisen für Überraschungen in kritischen Augenblicken der internationalen Politik.
Aus Berlin waren übrigens auch Michaelis und Norden mitgekommen, so daß das alte sprachliche Kleeblatt aus London wieder beisammen war. Es wurde mir aber gleich gesagt, daß ich bei den Hauptverhandlungen den Dolmetscher spielen sollte. „Um Gottes willen, werden Sie nicht temperamentvoll“, sagte mir der inzwischen etwas umgänglicher gewordene Staatssekretär von Schubert, „diesmal müssen wir alle darauf sehen, daß wir die Ruhe nicht verlieren.“
Genau das Gegenteil aber trat schon in der ersten Zusammenkunft der Außenminister ein, die sich das letzte Mal so freundschaftlich in Locarno gegenüber gesessen hatten. Kaum wiederzukennen waren die alten Bekannten, die sich am 7. März 1926, einem Sonntag, am frühen Nachmittag in dem großen Salon von Chamberlain im Hôtel Beau Rivage, dem ständigen Sitz der englischen Völkerbundsdelegation, zu einer Vorbesprechung zusammenfanden. Briand war doch noch aus Paris eingetroffen, Vandervelde mit seinem auch diesmal wieder leicht zirpenden Schwerhörigenmikrophon, der alte Scialoja, der wieder schweigsam Italien vertrat, sowie Luther und Stresemann saßen sich an jenem Sonntagnachmittag genau so zwanglos wie im Rathaussaal von Locarno gegenüber. Räumlich waren sie sich zwar nähergerückt, denn es stand kein großer Konferenztisch zwischen ihnen, aber politisch hatten sie sich meilenweit voneinander entfernt.
Was war in der Zwischenzeit geschehen? In Locarno war Deutschland als Großmacht ein ständiger Sitz im Völkerbundsrat zugesichert worden. Deutscherseits hatte man selbstverständlich angenommen, daß es sich dabei um denselben Völkerbundsrat mit der gleichen Zusammensetzung handeln würde, wie er zur Zeit der Locarno-Konferenz bestand. Zu Anfang des Jahres wurde jedoch in der französischen und englischen Presse überraschend von einer Kandidatur Polens für einen ständigen Ratssitz gesprochen. Davon war auf der Locarno-Konferenz weder von Briand noch von Chamberlain auch nur ein Sterbenswörtchen verlautet. Auf deutscher Seite glaubte man zunächst, daß es sich bei den Meldungen über den polnischen Ratssitz um reine Pressemanöver handele. Um so überraschter waren daher Luther und Stresemann, als ihnen kurz vor der Abreise aus Berlin und während der Fahrt im Zuge konkrete Mitteilungen über die Absicht Briands zugingen, tatsächlich für einen ständigen Ratssitz Polens einzutreten.
In der Pressediskussion waren schon seit einigen Tagen allerlei Kombinationen an diese auffallende Anregung geknüpft worden. In Deutschland hatte man natürlich darin sofort einen Schachzug gegen das Reich erblickt, der die Bewegungsmöglichkeit Deutschlands im Völkerbundsrat durch das Hinzutreten Polens einengen sollte.
Die Lage komplizierte sich noch weiter, als aus englischer Quelle bekannt wurde, daß Chamberlain auch Spanien einen ständigen Ratssitz versprochen habe. Darüber hatte sich schon in der englischen Presse eine heftige Kontroverse gegen den britischen Außenminister entwickelt. Gleichzeitig war in Stockholm erklärt worden, daß sich Schweden unter allen Umständen aus grundsätzlichen Erwägungen einer Erweiterung des Völkerbundsrates widersetzen würde. NurDeutschland dürfe aufgenommen werden, so hieß es in der schwedischen Presse. „Der schwedische Außenminister Undén wird gegen Polen und Spanien ein entschiedenes Veto einlegen“, meldete der schwedische Rundfunk.
In dieser reichlich verworrenen Lage begannen die „Freunde“ aus Locarno an jenem Sonntagnachmittag in Genf ihre ganz und gar nicht „freundliche“ Unterhaltung, nachdem die Tee servierenden Kellner das Zimmer verlassen und der Sekretär Chamberlains die Tür zugeriegelt hatte, damit niemand die Aussprache stören konnte. Außer den Staatsmännern waren nur noch Professor Hesnard und ich als Dolmetscher anwesend.
Briand eröffnete das Gespräch in seiner ruhigen, beschwichtigenden Art, wie ich sie aus mancher schwierigen Besprechung von Locarno noch in Erinnerung hatte. Er schien sich von allen Anwesenden am wenigsten verändert zu haben. Während Chamberlain ein zur Wetterlage großartig passendes eisiges Gesicht machte und bewegungslos vor sich hinstarrte, war der französische Außenminister, der nach seinem Sturz dieses Amt nur interimistisch verwaltete, zunächst noch durchaus liebenswürdig. Ich glaubte höchstens eine gewisse Betretenheit bei ihm zu bemerken, als er, sofort auf den Kernpunkt der Schwierigkeiten eingehend, über den polnischen Ratssitz sprach. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit von ihm, daß noch vor Abreise der deutschen Delegation nach Genf die Reichsregierung bei den Großmächten ihre Bedenken gegen eine Ratserweiterung „mit erheblichem Nachdruck“, wie sich Briand ausdrückte, bekanntgegeben hatte, und daß daraufhin erst diese Besprechung auf einen Vorschlag von Chamberlain für Genf in Aussicht genommen worden war.
„Wir haben uns Ihrem Lande gegenüber keinerlei Illoyalität zuschulden kommen lassen, wie es die deutsche Presse behauptet, Herr Stresemann“, erklärte Briand mit zunehmender Heftigkeit und abnehmender Freundlichkeit, „als wir für die Kandidatur Polens eintraten.“ Die Frage der Erweiterung des Rates habe den Völkerbund nicht erst nach Locarno beschäftigt. Sie sei im Gegenteil schon sehr oft in Genf erörtert worden. „Anderen Ländern als Polen gegenüber sind sogar schon seit längerer Zeit feste Versprechungen gemacht worden. Ich meine damit Spanien“, rief er zum Schluß temperamentvoll aus und blickte dabei Chamberlain an, als wolle er sagen, daß dieser und nicht er an dem Durcheinander schuld sei.
Dann sprach Chamberlain. Er benutzte dabei wieder seine Hände in jener etwas ungelenken, nervösen Weise, die mir schon bei gewissen kritischen Situationen in Locarno aufgefallen war. Um einige Grade unfreundlicher als Briand wandte auch er sich gegen die falsche Auslegung, die der Ratserweiterung in der deutschen Presse gegeben würde. „Sie hätten vielleicht Ihre Presse etwas besser unterrichten können“, wandte er sich an Luther, von dem er annahm, daß er sein Französisch besser verstünde als Stresemann, und sprach damit undiplomatisch das aus, was Briand sehr geschickt nur angedeutet hatte, daß nämlich nicht die deutsche Presse, sondern Luther und Stresemann dieses Mißtrauen gegen ihre Partner von Locarno hegten.