Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul Schmidt страница 29
Nun antwortete zunächst Luther. Er sprach recht gut französisch. In dieser Sprache hatte er sich während seiner Studienzeit in Genf vervollkommnet und hatte sicherlich schon auf der Schule, wie in anderen Fächern, auch darin eine Eins gehabt. Jedenfalls gelang es ihm mit einigen sprachlichen Beihilfen der anderen Gesprächsteilnehmer, den deutschen Standpunkt in aller Klarheit darzulegen.
Wenn man in der Diplomatie noch so mißtrauisch ist und vielleicht gerade dann besonders, beginnt man vielfach seine Ausführungen mit einer Versicherung des Vertrauens gegenüber der Gegenseite. Diese alte Verfahrensregel, die ich in der Praxis noch oft bei meinen Übersetzungen antraf, erlebte ich hier zum ersten Male. Sie machte mir einen nachhaltigen Eindruck.
„Wir haben selbstverständlich nach wie vor volles Vertrauen zu unseren Vertragspartnern aus Locarno“, sagte Luther. „Wir haben nie an eine Verschwörung geglaubt“, erklärte später Stresemann auf deutsch. Ich wußte es besser, aber ich lernte hier und später, welche Umgangsformen man auf dem diplomatischen Parkett, und besonders auf dem von Genf, auch in den schwierigsten Lagen beobachten muß.
Luther und Stresemann erwiesen sich an diesem Nachmittag und während der ganzen Genfer Tage als ausgezeichnete Diplomaten, die ihren gewandten Gegenspielern durchaus ebenbürtig waren. Sie zeigten sich der Form nach zurückhaltend und elastisch, blieben in der Sache selbst aber durchaus unnachgiebig.
Stresemann erklärte rund heraus, es handele sich für Deutschland lediglich darum, daß das in Locarno gemachte Versprechen eines ständigen Ratssitzes jetzt eingelöst würde. Das sei der einzige Punkt, der zur Debatte stehe. Da in Locarno nicht das geringste darüber verlautet sei, daß sich der Völkerbundsrat etwa durch Hinzuziehung anderer Länder in seiner politischen Struktur ändern könne, gelte diese feste Zusage an Deutschland natürlich unbedingt für den Rat, so wie er jetzt zusammengesetzt sei.
Wenn von Briand und Chamberlain darauf hingewiesen worden sei, daß bereits in früheren Jahren ein Anspruch, z. B. Spaniens oder Brasiliens, auf einen ständigen Ratssitz geltend gemacht und seine Honorierung beim Eintritt einer Großmacht in den Rat in Aussicht genommen worden sei, so könne dieses Argument keinesfalls auf Polen Anwendung finden, das früher nie einen Anspruch auf einen ständigen Sitz erhoben habe. „Ich möchte keinen Zweifel darüber lassen“, hörte ich zu meiner Überraschung Stresemanns metallene Stimme zum Schluß sagen, „daß die Vermehrung der ständigen Ratssitze im Zusammenhang mit der Aufnahme Deutschlands bei dieser Tagung in Genf das Reich möglicherweise veranlassen könnte, sein Aufnahmegesuch wieder zurückzuziehen.“
Diese Ankündigung wirkte wie eine Bombe. Sie kam ja auch fast einem Ultimatum gleich. Würde Deutschland diesen Schritt tatsächlich tun, so würde das ganze Werk von Locarno zusammenbrechen. Die Folgen wären unabsehbar gewesen. In erster Linie für Deutschland, aber auch für Europa und nicht zuletzt für die in diesem Hotelzimmer anwesenden Außenminister, die bei einem so eklatanten Schiffbruch ihrer Politik zweifellos sofort von den Parlamenten hinweggefegt worden wären, zumal die neue Linie ohnehin mit scheelen Augen betrachtet wurde.
Briand und Chamberlain sahen sich betroffen an. Das „Fischblut“ des englischen Außenministers mußte wohl doch etwas ins Wallen geraten sein, denn sein Gesicht begann sich fast unmerklich zu röten. Im übrigen aber blieb er völlig beherrscht. Um Briands Lippen spielte jenes halb spöttische, halb beruhigende Lächeln und in seinen Augen leuchtete jene überlegene Heiterkeit auf, die er in kritischen Momenten oft zur Schau trug. Er verlor auch in Situationen wie dieser nicht so schnell den Kopf.
„Mais voyons, Monsieur Stresemann, na hören Sie mal, Herr Stresemann“, warf er in ruhigem Ton ein, „ganz so schlimm wird es ja nun auch nicht sein.“ Stresemann hatte wohl selbst gemerkt, wie betroffen die „Kollegen von der anderen Seite“ über seine Ausführungen waren. Mit einem Geschick, wie ich es bei keinem deutschen Außenminister wieder erlebt habe, fing er die etwas bedrohliche Situation sofort wieder ein, indem er erklärte, daß Deutschland selbstverständlich grundsätzlich keine Einwendungen gegen den Eintritt dieses oder jenes Landes in den Völkerbundsrat habe. Es sei auch nicht grundsätzlich gegen Polen eingestellt.
„Sie müssen aber verstehen, meine Herren, daß wir nicht, ehe wir selbst Mitglied des Völkerbundes sind, über Änderungen seiner Organisation eine Meinung äußern können. Sind wir erst einmal selbst aufgenommen, sind wir ohne weiteres zu Konzessionen in der Frage der Ratserweiterung bereit“, erklärte er und hatte bewußt oder unbewußt mit dem in jeder diplomatischen Unterhaltung, vor allem aber in dem Genfer Jargon wahrhaft magisch wirkenden Wort „Konzession“ den Nagel auf den Kopf getroffen. Sichtlich hob sich die Stimmung in dem kleinen Raum, auch wenn die Konzession Stresemanns nur Zukunftsmusik war. Die Mienen glätteten sich weiter, als er die Andeutung über die Konzessionen noch dadurch konkretisierte, daß er – auch wieder völlig im Einklang mit der Methode der Genfer Konferenzen – eine Kommission zum Studium der ganzen Frage vorschlug. Sichtlich erleichtert schien mir Chamberlain zu sein, der in England schon vor seiner Reise nach Genf wegen seiner ungeschickten Politik in der Frage der Ratssitze so heftig angegriffen worden war, daß er ein Scheitern des Locarno-Paktes an dieser Frage als Außenminister nicht überlebt haben würde.
Diese erste Unterredung am Sonntagnachmittag dauerte über drei Stunden. Viel wurde noch über Einzelfragen gesprochen, noch viel mehr wiederholt, wie das besonders in Genf üblich war. Zu irgendeiner Einigung kam es nicht, aber es war wenigstens ein völliger Bruch vermieden worden. Man trennte sich gegen Abend zwar nicht so herzlich wie in Locarno, aber doch freundlicher, als ich es bei der eisigen Atmosphäre, die zu Anfang herrschte, vermutet hatte. Am Abend reiste Briand wieder nach Paris zurück; er war ja von der Kammer gestürzt worden, und es mußte ein neues französisches Kabinett gebildet werden. Das hatte man an dem aufregenden Nachmittag im Beau Rivage eine Weile lang ganz vergessen.
Als wir das Hotel verließen, drängten sich die Journalisten in der Halle. Jeder suchte aus dem Gesichtsausdruck der Außenminister irgend etwas zu entnehmen. Die zahlreichen Fragen, die auf deutsch, französisch und englisch auf Luther und Stresemann niederprasselten, als sie sich mühsam und so ganz unministeriell ihren Weg durch die Weltpresse bahnten, blieben unbeantwortet. Sie lächelten nur, aber das war für Genf schon Antwort genug. „Genfer Aussprache im ganzen zufriedenstellend“, „Mühelose (!) gegenseitige Klärung der Situation“, so lauteten am nächsten Tage die Zeitungsüberschriften in den Hauptstädten Europas. Briand hatte, als er nach uns das Hotel verließ, anscheinend den Journalisten auch zugelächelt.
Im übrigen beschwerte sich die Presse schon sehr bald über „das völlige Stillschweigen der Delegationen“, die Heimlichkeit zweiten Grades der Verhandlungen. Ein erfahrener Beobachter hätte schon daraus seine Schlüsse ziehen können, denn wenn Staatsmänner schweigen und geheimnisvoll tun, bedeutet das meistens nicht, daß sie sich einig sind.
Jetzt lernte ich auch eine Besonderheit Genfs kennen, die Zusammenballung der Weltpresse. Selbstverständlich waren auch die Journalisten hinter mir her „wie der Teufel hinter der armen Seele“, wie es der witzige Vertreter eines Berliner Mittagsblattes, der es wegen seines frühen Redaktionsschlusses immer besonders eilig hatte, treffend charakterisierte. Ich kannte die meisten Sonderberichterstatter der deutschen, französischen und englischen Presse schon von Locarno her. Aber dort hatte unser Delegationshotel weit außerhalb des Ortes gelegen und die Halle war nie so dicht gedrängt voll Journalisten gewesen, wie hier im Métropole in Genf. So wurden diese Tage und die ganze Genfer Zeit für mich zu einer ausgezeichneten Schule in der diplomatischen Kunst, zu reden und doch nichts oder nur sehr wenig zu sagen. Zuerst fand ich diese Unterhaltungen, denen man nur als Taubstummer hätte ausweichen können, recht anstrengend, denn ich wußte aus einem besonderen Fall in Locarno, daß die Presse sich auf das unbemerkte Kreuzverhören