Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Außer in den Hotelhallen traf man die Journalisten noch in der berühmten „Bavaria“, einem kleinen in der Nähe des Métropole gelegenen rauchigen Bierlokal. Dort war bis in die späte Nacht hinein die „Weltmacht Presse“ auf zahlreichen „ständigen Barsitzen“, je nach Nationalität Bier, Whisky oder Wein trinkend, vertreten. Das kleine Restaurant war die größte Nachrichtenzentrale der Welt an den Tagen, wo sich die Vertreter der Mächte in Genf versammelten. Dort fanden sich nicht nur Pressevertreter, sondern öfter auch die Politiker bis hinauf zu den Außenministern und deren Berater, Beamte des Völkerbundssekretariats oder auch gewöhnliche internationale Schlachtenbummler der Konferenzen ein. Dort erfuhr man schon am Abend vorher, was am nächsten Tag in der Weltpresse zu lesen sein würde. Man konnte in diesem kleinen Raum den Puls der Weltmeinung fühlen. Das war auch der Grund, weshalb sich dann und wann ein Außenminister persönlich blicken ließ. Öfter konnte man Stresemann dort treffen, wie er, hinter einem großen Bierglas mit einer dicken Zigarre im Mund, von Journalisten umringt, über seine Politik sprach oder sich in geistreichem, witzigem Wortgefecht mit den Vertretern der deutschen Oppositionspresse und Presseleuten aus anderen Ländern bis in die tiefe Nacht hinein unterhielt. Die Bavaria war daher nicht nur ein Treffpunkt der Presse, sie war eine Institution, wie ich sie sonst nirgendwo in Europa wieder angetroffen habe, und ich frage mich manchmal, ob wohl die Vereinten Nationen, die ja ihr Gewerbe viel mehr im Umherziehen von einem Ort zum anderen, zwischen San Franzisko, Lake Success, London und Paris ausüben, etwas Ähnliches entwickelt haben.
Wie wichtig diese Bavaria für das Genfer Getriebe war, erkannte ich gleich in den ersten Tagen der Krise. Dieses Bierlokal, an dessen Wänden die von den berühmten Karikaturisten Dersö und Kelen gezeichneten Bilder der Prominenten des Völkerbundes hingen, war ein Stimmungsbarometer, von dem man die jeweilige Lage ablesen konnte, auch wenn man als Noch-nicht-Aufgenommener keinen Zutritt zu den heiligen Hallen des Völkerbundspalastes selbst hatte. Wer in der Bavaria seinen Whisky trank, war oft besser unterrichtet als jemand, der von einer Delegation zur anderen stürmte. Er mußte allerdings gut zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden, er mußte auch beim gesprochenen Wort der Journalisten so gut zwischen den Zeilen lesen können, wie dies die Deutschen erst in der Schule von Goebbels gelernt haben.
Durch die Rückkehr Briands nach Paris trat zunächst in den Genfer Besprechungen eine gewisse Pause ein. Chamberlain berief kurz danach eine weitere Sitzung der Locarno-Mächte ohne Briand auf den 10. März ein, die sich auch wieder über zweieinhalb Stunden hinzog. Er versuchte, den Deutschen nahezulegen, an einer inoffiziellen Ratssitzung über das leidige Thema der Erweiterung dieser Körperschaft teilzunehmen. Das lehnte Stresemann jedoch mit der Begründung ab, daß Deutschland, wie er bereits am Sonntag ausgeführt habe, diese Frage nichts angehe. Auch hier ging es wieder etwas bewegt zu, ohne daß irgendwelche neuen Elemente in der Diskussion aufgetreten wären. Diesmal allerdings sickerten Nachrichten darüber auch in die Presse. „Discussion orageuse“ schrieb die französische Presse, „Schwerer Rückschlag“ meldeten die Engländer, „Düsteres Schweigen“ warf die deutsche Presse den Delegierten vor.
Am 11. März kam dann Briand aus Paris zurück. Er hatte sein achtes Ministerium gebildet. Zum ersten Male war er am 14. März 1906 Minister geworden. In den zwanzig Jahren, die seitdem verflossen waren, hatte er vierzehnmal einer französischen Regierung angehört, davon sechsmal als Minister und achtmal als Ministerpräsident. In der neuen Kabinettsliste stand übrigens als Justizminister unmittelbar nach ihm Pierre Laval, für den ich 1931 in Berlin dolmetschte, als er mit Briand zusammen Brüning und Curtius einen offiziellen Besuch abstattete, und den ich später bei einer Reihe von Gesprächen mit Hitler erleben sollte.
Sofort nach Briands Eintreffen in Genf fand eine Ratssitzung statt, an der wir nicht beteiligt waren. Aber die Bavaria bewährte sich glänzend. Hier erfuhren wir, was sich später als durchaus zutreffend herausstellte, daß es während dieser dreistündigen Nachmittagssitzung zu sehr scharfen Zusammenstößen zwischen den Anhängern der Erweiterung und ihren Opponenten gekommen war. Zum damaligen Zeitpunkt bestand der Völkerbundsrat aus vier ständigen Mitgliedern (Frankreich, England, Italien, Japan) und sechs nichtständigen Mitgliedern (Belgien, Spanien, Schweden, Tschechoslowakei, Brasilien und Uruguay). Von den letzteren hatten sich Spanien und Brasilien um einen ständigen Sitz beworben, während Polen als Nichtratsmitglied seine Ansprüche auf dieser Sitzung nicht vertreten konnte.
Wir erfuhren, daß der schwedische Außenminister, obwohl er von Frankreich, England, Spanien, Brasilien und Uruguay immer wieder während der Sitzung angegriffen wurde, bei seinem Standpunkt geblieben war und erklärt hatte, er könne keiner sofortigen Erweiterung des Rates über die Aufnahme Deutschlands hinaus zustimmen. Seine Marschroute sei absolut gebunden.
Ebenso hartnäckig waren aber Spanien und Brasilien in der Verfechtung ihres Anspruchs. Mello-Franco, der brasilianische Vertreter, brachte den Rat, der übrigens in geheimer Sitzung tagte – nur für die Bavaria war sie anscheinend nicht geheim –, in höchste Erregung, als er rundheraus erklärte, Brasilien sei durch die Locarno-Abkommen nicht gebunden und werde daher gegen die Aufnahme Deutschlands in den Rat sein Veto einlegen, wenn seiner Forderung auf einen ständigen Ratssitz nicht stattgegeben werde.
Man kann sich sehr leicht vorstellen, daß in diesem Augenblick „die Diskussion äußerst heftige, sonst nicht übliche Formen annahm“, wie der Korrespondent des Temps seinem Blatt am nächsten Tage meldete, denn damit war ja wieder Locarno in Gefahr und die Außenministersitze wankten.
Inzwischen wartete die deutsche Delegation weiter. Wir waren nun schon fast eine Woche in Genf und antichambrierten in einer für ein großes Land kaum erträglichen Weise. Allen Ernstes wurde erwogen, ob wir nicht einfach abreisen sollten. Über die Bavaria wurden diese Absichten auch als Gerüchte den übrigen Delegationen zugespielt.
Die Wirkung war äußerst prompt. Chamberlain erschien in einer Aufregung, wie ich sie überhaupt noch nicht bei ihm erlebt hatte, bei uns im Hotel. In seiner Hast setzte er die Drehtür derartig in Schwung, daß sie ihn fast wieder auf die Straße geschleudert hätte. Den Fahrstuhl benutzte er nicht, sondern eilte, so schnell er konnte, die Treppe ins erste Stockwerk hinauf zu Luther. Was die beiden miteinander gesprochen haben, weiß ich nicht, denn mit Luther sprach Chamberlain ja französisch und ein Dolmetscher war nicht nötig. Er scheint sich allerdings bei diesem Gespräch dem deutschen Standpunkt sehr erheblich genähert zu haben, und bei der Mittagstafel hieß es, daß die Krise so gut wie beigelegt sei, da Chamberlain bereit sei, die Behandlung des spanischen Antrages auf später zu vertagen.
Nachmittags fanden sich die Locarno-Mächte erneut in Chamberlains Hotelsalon zusammen, genau so wie am ersten Tage. Ich glaubte schon, daß nun alles in Ordnung kommen würde, stellte aber bereits nach kurzer Zeit fest, daß im Gegenteil alles beim alten geblieben war. Briand war mit genau derselben Auffassung aus Paris zurückgekehrt, die er am Sonntag vertreten hatte. Er wollte unter allen Umständen Polen in den Rat bringen. Da fiel auch Chamberlain wieder um. Spaniens Kandidatur wurde erneut in den brodelnden Kessel der Diskussion geworfen. Luther und Stresemann wiederholten ihre Sonntagsargumente und blieben dabei, so sehr sie auch von allen Seiten bestürmt wurden. Trotzdem aber war die Stimmung nicht so aufgeregt. Eine gewisse Müdigkeit machte sich bemerkbar, die eine schärfere Tonart ausschloß.
Am Abend nach dieser Sitzung war die Bavaria in heller Aufregung. „Chamberlain hat heute abend unser Land bedroht“, rief ein schwedischer Journalist in den Raum, „ich war eben bei meiner Delegation. Sie findet Chamberlains Verhalten unerhört.“ Sofort mischten sich die Amerikaner und die Engländer in das Gespräch, alle waren gegen Chamberlain, und es wurde mit harten Worten über diesen ungeschickten Außenminister nicht gespart. Die Presseleute der kleinen Länder schimpften eifrig mit, brachten aber dabei eine neue, interessante Note in die Debatte.
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